Nichts passiert
15. Dezember 2012Der Präsident musste mit den Tränen kämpfen, als er am Freitagnachmittag (14.12.2012, Ortszeit) im Weißen Haus vor die Presse trat. "Wir haben zu viele von diesen Tragödien in den letzten Jahren durchlitten", erklärte er und wischte sich immer wieder die geröteten Augen. "Und jedes Mal, wenn ich solche Nachrichten erhalte, dann reagiere ich darauf nicht als Präsident, sondern so, wie es jeder andere auch tun würde: als Vater." Die Nation befindet sich im Schockzustand.
Polizisten beschreiben den Tatort in der Sandy-Hook- Grundschule in dem kleinen Örtchen Newtown in Connecticut als das schlimmste, was sie je gesehen haben. Fernsehreporter müssen während ihrer Berichterstattung um Fassung ringen. Eltern im ganzen Land können nicht fassen, dass wieder einmal eine Schule der Schauplatz einer schrecklichen Tragödie wurde. 26 Tote, darunter 20 Kinder ist die traurige Bilanz des Amoklaufes, auch der mutmaßliche Schütze ist tot.
Der Astronaut Mark Kelly, Ehemann der früheren Abgeordneten Gabrielle Giffords, die Anfang 2011 bei einem Attentat in Tucson, Arizona, schwer verletzt wurde - damals starben sechs Menschen - erklärte auf seiner Facebook-Seite, seine Frau und er würden für die Opfer und Hinterbliebenen beten. "Während wir trauern, müssen wir an unsere Politiker appellieren, die Initiative zu ergreifen und das Richtige zu tun", schrieb er. Dieses Mal müsste die Reaktion aber mehr sein als nur Bedauern und Mitgefühl: "Die Kinder der Sandy-Hook-Grundschule und alle Opfer von Waffengewalt verdienen Anführer, die den Mut haben, eine Diskussion über unsere Waffengesetze anzustoßen," so Kelly, "wie sie überarbeitet und besser durchgesetzt werden können, um Waffengewalt und Tod in Amerika zu verhindern. " Und er fügte hinzu: "Das kann nicht länger warten."
Schlechte Note für Obama
Doch ob der mehrfache Space-Shuttle-Kommandant mit dieser Ansicht bei den entscheidenden Stellen Gehör findet, ist fraglich. In seiner kurzen Ansprache erwähnte Präsident Obama die Waffengesetze mit keinem Wort, erklärte allerdings, man müsse zusammen kommen, "und sinnvolle Maßnahmen ergreifen, um Tragödien wie solche zu verhindern, ohne Rücksicht auf politische Debatten". Eine Forderung, die er in seiner samstäglichen Ansprache an die Nation wiederholte. Wie das geschehen soll, sagte er nicht. Sein Pressesprecher Jay Carney hatte am Freitag erklärt: "Heute ist nicht der Tag für die üblichen Washingtoner Politik-Debatten." Im März 2011, zwei Monate nach dem Attentat auf Giffords, hatte Obama in einem Kommentar in der Tageszeitung Arizona Daily Star bereits verlangt, man müsse einen Weg finden, "die USA zu einem sichereren Ort" zu machen. Passiert ist seitdem nichts. Damals beschränkte der Präsident sich auf die Forderung, die bestehenden Gesetze besser umzusetzen, und nicht neue, strengere, landeseinheitliche einzuführen.
Unter Obamas Präsidentschaft wurden die Waffengesetze sogar noch gelockert: Inzwischen ist es erlaubt, in Nationalparks und Wildschutzgebieten Waffen zu tragen. Die Brady-Kampagne, die sich landesweit für striktere Waffengesetze einsetzt, gab dem Präsidenten 2009 ein "F" für "failing" - durchgefallen. Unter anderem habe Obama es versäumt, so der Vorwurf, die Gesetzeslücke zu schließen, nach der auf Waffenshows, anders als im Laden, keine Backgroundchecks notwendig sind, bevor Pistolen oder Gewehre ihren Besitzer wechseln. Wenn eine Waffe von Privat an Privat innerhalb eines Bundesstaates weitergegeben wird, fällt diese Überprüfung ebenfalls weg. Auch die Beschränkung für den Besitz von halbautomatischen Waffen, die 2004 auslief, wurde bisher nicht erneuert.
Waffenbesitz ein Grundrecht
Das Recht auf privaten Waffenbesitz ist in den USA in der Verfassung verankert. Der zweite Zusatzartikel der Grundrechte eines jeden Amerikaners lautet: "Da eine gut ausgebildete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates erforderlich ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden." Und die Amerikaner machen reichlich Gebrauch von ihrem Recht. Nach einer Gallup-Umfrage vom Oktober letzten Jahres besitzen 47 Prozent aller Haushalte in den USA eine Waffe - das ist der höchste Wert seit 1993.
Dafür gibt es zwei mögliche Gründe: Es haben tatsächlich mehr Amerikaner eine Pistole oder ein Gewehr im Haus, Scheune oder Auto - das FBI hat 2011 eine Zunahme an Background-Check-Anfragen für Waffenkäufe verzeichnet - oder die Waffenbesitzer haben einfach nur weniger Probleme damit, sich offen zu ihren Feuerwaffen zu bekennen. Übrigens ist der Anstieg ein überparteiliches Phänomen, und unter Demokraten mit 40 zu 32 Prozent im Vergleich zu 2010 noch steiler als bei den Republikanern (55 zu 52 Prozent).
Gesetzesänderungen nicht in Sicht
An der Kriminalitätsrate im Land kann der Run auf die Waffen jedenfalls nicht liegen: Die Zahl der Gewaltverbrechen ist insgesamt rückläufig. 2010 gab es weniger Morde, Vergewaltigungen und Raubüberfälle als 2009. Dabei spielten Schusswaffen jedoch eine prominente Rolle. Knapp 70 Prozent aller Morde und rund 40 Prozent aller Raubüberfälle wurden mit Waffen durchgeführt. Und es sind die Amokläufe mit Schusswaffen, die die Nation zumindest emotional immer wieder aufschrecken: 20. April 1999, Columbine High School, 13 Tote; 16. April 2007, Virginia Tech Universität, 32 Tote; 5. November 2009, Fort Hood, 13 Tote; 20. Juli 2012, Aurora, 12 Tote.
Doch auch nach solchen Massakern pocht die Waffenlobby, allen voran die mächtige NRA (National Rifle Association) auf das verfassungsgemäße Recht und lehnt Gesetzesänderungen ab. Am Abend des Massakers von Newtown war die Reaktion der NRA sowohl auf dem Twitter-Account als auch auf der Webseite: Schweigen.