Wie Werbung "Fake News" befeuert
14. Mai 2017Dank Werbeeinnahmen ist der finanzielle Anreiz für die Erstellung und Verbreitung von Falschnachrichten noch immer hoch - trotz des massiven Vorgehens von Google und Co. sowie zahlreicher Appelle an die digitale Werbeindustrie, die "Fake News"-Flut einzudämmen.
Eine von BuzzFeed.com durchgeführte Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass Anfang April mehr als 60 Webseiten, die Falschinformationen veröffentlichen, Geld mit der Google-Werbeplattform AdSense und anderen großen Werbenetzwerken verdienten. Hinzu kommt, dass von einem Netzwerk verbannte Gerüchte-Schreiber oft einfach zu einer anderen Werbenetzwerk wechseln.
Aber warum ist das so? Laut einer Studie der London School of Economics and Political Science (LSE) ist eine relativ neue Art der Online-Werbung der Kraftstoff, der die Fake News-Maschinerie finanziell am Leben hält - oder sie überhaupt erst in Gang gebracht hat.
Der LSE-Professor und Autor der Studie Damian Tambini sagt, ein neues, sogenanntes programmatisches Werbemodell "belohne" nicht diejenigen Nachrichten, deren Wahrheitsgehalt aufwendig überprüft wurden, sondern solche, die visuell ansprechend sind und eine gute Chance haben, in Sozialen Netzwerken geteilt zu werden.
"Die neue digitale Werbestrategie schafft eine deutlich direktere wirtschaftliche Verbindung zwischen der Resonanz und der Shareability individueller Artikel und des wirtschaftlichen Gewinns," schreibt Tambini in der Studie. "Zudem ermöglicht das Modell kleineren Publikationen, sich außerhalb ethischer und selbstregulierender Auflagen zu etablieren." Mit "kleineren Publikationen" meint Tambini vor allem die Verbreiter von Falschnachrichten und Halbwahrheiten wie Huzlers.com, die innerhalb kurzer Zeit eine große Reichweite und volle Taschen erzielt haben.
Programmatische Werbung wird mit Hilfe von Algorithmen vollautomatisch und in Echtzeit gekauft und platziert; Es ist die Art von Werbung, die Internetnutzer oft über mehrere Tage auf vielen Webseiten "verfolgt", beispielsweise nachdem sie sich eine Flug-Verbindung im Netz angeschaut haben.
Das Problem ist global
Bei dieser Art Werbung hängt die Entscheidung über die Platzierung nicht von der Publikation oder der Website ab, sondern von der Höhe der zu erwartenden Klicks oder Views einer bestimmten Zielgruppe. Diese Unterscheidung ist laut Tambini die Krux: Solange die Reichweite stimmt, ist der Werbeträger egal - Views sind entscheidender als News.
Die Rechnung dahinter ist simpel: Je häufiger Werbung gesehen wird, desto mehr Zugriffe gibt es. Und mehr Zugriffe bedeuten mehr Einnahmen für den Werbeträger, also die Webseite, auf der die Werbung geschaltet wird. Da nicht nur die Webseiten, sondern auch Werber, Agenturen und Plattformen von dem Modell profitieren, sei es im Interesse aller Beteiligten, die Zahl der Views zu maximieren, sagt Tambini. Deshalb seien die Anreize für eine Änderung des Modells gering.
Tambini sieht in der Dominanz programmatischer Werbung einen "massiven Strukturwandel, der Mediensysteme auf der ganzen Welt verändert". Die neuen Herausgeber, so Tambini, könnten überall auf der Welt operieren - auch in Ländern, die ein außenpolitisches Interesse daran haben, "Fake News" zu nutzen, um etwa die nationale Sicherheit anderer Staaten zu untergraben oder deren Demokratie zu delegitimieren. Die Aussage des Medien-Professor kann man als eine Anspielung auf die versuchte Einflussnahme Russlands auf den Ausgang der Wahlen in den USA und Frankreich deuten.
Programmatische Werbung führt auch dazu, dass Publikationen im Rennen um Klicks und Werbeeinnahmen oft Inhalte veröffentlichen, ohne sie vorher auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Das wird beispielhaft an einem Video vom Februar 2017 deutlich, in dem eine Frau auf offener Straße ein Fahrzeug zerstört. Mehrere britischen Publikationen veröffentlichten das Video. Im Nachhinein entpuppte es sich als Inszenierung.
Farhad Manjoo, Kolumnist der "New York Times", vergleicht das Problem der Werbeindustrie mit der Intransparenz von industriellen Lieferketten: Man weiß oft nicht, wer genau ein Kleidungsstück herstellt, oder ob ein gekaufter Diamant einen Krieg mitfinanziert. Da helfe nur Nachforschen, so Manjoo.
Erste Anzeichen von Lösungsansätzen
Die offenkundigen Schwächen programmatischer Werbung wurden in letzter Zeit durch mehrere prominente Fälle deutlich: die Entscheidung von Werbern Ende 2017, keine Anzeigen auf der Webseite der rechtsgerichteten US-amerikanischen Nachrichten- und Meinungs-Webseite "Breitbart" mehr zu schalten; der YouTube-Boykott von 250 Firmen, darunter Ford, Starbucks und Ikea, nachdem ihre Werbespots neben Videos mit zum Teils extremistischen Inhalten zu sehen waren; und Googles Verbannung von mehreren hundert Herausgebern von seinem AdSense-Werbenetzwerk.
Diese Maßnahmen bezeichnet Tambini als mögliche Anzeichen für eine Selbstkorrektur des Systems. Allerdings reiche eine solche selbstregulierende Dynamik wahrscheinlich nicht aus, da die Konsequenzen des "tiefgreifenden Strukturwandels" noch nicht absehbar sind. Deshalb seien eventuell Eingriffe und mehr Aufsicht seitens der Politik nötig, fordert LSE-Professor Tambini, warnt aber gleichzeitig vor Aktionismus: Vorschnelle Maßnahmen könnten die freie Meinungsäußerung einschränken und die Autonomie der Medien untergraben.
Am sinnvollsten hält Tambini einen Verhaltenskodex und Gütesiegel, weil damit Transparenz entstehe und Werber mehr Kontrolle über die Platzierung ihrer Botschaften hätten.
Genau das will die vor Kurzem angekündigte Initiative "Open Brand Safety (OPS)" erreichen. Das Gemeinschaftsprojekt des irischen Medien-Startup Storyful und der US-Werbeanalyse-Firma Moat verfolgt das erklärte Ziel, eine Datenbank mit verdächtigen Domains und Video-URLs zu erstellen, mit der "Marken, Agenturen und Plattformen besser entscheiden können, wo sie ihre Werbung schalten".
Aber programmatische Werbung hat nicht nur Nachteile. Nach Angaben Manjoos kann ein Teenager mit einer großen YouTube-Anhängerschaft ohne programmatische Werbe-Sponsoren kaum Geld verdienen. Außerdem, so argumentiert Manjoo, schaffe das neue Modell einen "effizienteren Werbemarkt"; und die aktuelle Debatte würde langfristig zu "besserer Werbung" und "besseren Medien" führen.
Ob neue Gesetze, Initiativen wie OPS oder Selbstregulierung - wie und wann sich das dominante programmatische Werbemodell ändern wird, ist offen. Nur eines ist sicher: Eine Rückkehr zum alten Modell, bei dem Werbeflächen nicht von Computern, sondern von Menschen verkauft wurden, wird es wohl nicht geben - allein Google müsste dafür geschätzt 100.000 neue Mitarbeiter einstellen.