Atomkraftwerke in Gefahr
16. März 2011Weltweit gibt sind 443 Kernkraftwerke in 30 Ländern am Netz, die 14 Prozent der globalen Stromversorgung liefern. In Deutschland existieren noch 17 Meiler. Nach den Atomunfällen in Japan will die Bundesregierung nun sieben davon vorübergehend vom Netz nehmen, fünf von ihnen droht die endgültige Abschaltung. 19 weitere Reaktoren wurden bereits stillgelegt. Sie waren zum Teil Anfang der 1960-er und 1970-er Jahre errichtet worden und wurden vom Netz genommen, weil ihr Betrieb nicht mehr den neuesten Sicherheitsstandards entsprach.
Zu diesen Sicherheitsstandards gehören neben der regelmäßigen Überprüfung der technischen Ausstattung vor allem der Schutz vor Erdbeben, Hochwasser und Terrorangriffen. Schon bei der Technik, die in vielen seit 40 Jahren betriebenen Kernkraftwerken schrittweise erneuert wird, kommt es immer wieder zu Problemen in der Passgenauigkeit zwischen alten analogen und neuen digitalen Modulen. Von Deutschlands ältestem Druckwasserreaktor Neckarwestheim I zum Beispiel liegt der Reaktorsicherheitskommission ein Bericht vor, dass dort beim Einbau digitaler Leittechnik die Steuerungstechnik blockierte. Der Bericht erwähnt auch Wartungen, die zwischenzeitlich nach Effizienzgesichtspunkten durchrationalisiert und von vier auf zwei Wochen gekürzt wurden. Dabei übersahen Techniker, 40 Prozent von ihnen Hilfskräfte, zum Teil 27 Jahre alte Schweißnähte bei der Revision.
Der Traum von der Terrorsicherheit
Alle deutschen Atomkraftwerke sollten terrorsicher werden, so hieß es bereits kurz nach den Anschlägen vom 11. September des Jahres 2001. Wie man das erreichen könnte, versuchte die Bundesregierung mit einer in den USA in Auftrag gegebenen Studie zu klären. Man wollte Sicherheit gegen Flugzeugabstürze und panzerbrechende Waffen. Vorgeschlagen wurden Wandverstärkungen der Reaktorblöcke mit Zusatzbeton von zwei bis drei Metern Stärke, aufgespannte Stahlnetze und Vernebelungsanlagen.
Was davon in den letzten Jahren umgesetzt wurde, ist auf Anfrage nicht exakt zu erfahren. Es schweigen die Betreiber der Atommeiler, die großen Stromkonzerne, die Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden sowie das Bundesumweltministerium und die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit. Das sei Geheimsache, heißt es.
Kein Schutz gegen Flugzeugabstürze
Auskunft zur Sicherheit deutscher Kernkraftwerke geben vor allem Nichtregierungsorganisationen wie die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW und Greenpeace. Beide Institutionen haben sogar eigene Untersuchungen angestellt. Hier gibt es dann Klartext. Zum Beispiel von Tobias Riedl von Greenpeace, der erklärt, dass keines der deutschen Atomkraftwerke gegen den Absturz eines großen Flugzeugs gesichert sei. Bei den älteren Kraftwerken wäre die Gefahr besonders groß, denn die Gebäudehüllen seien viel zu dünn. Schon kleinere Flugzeuge könnten zu großem Schaden führen.
Ein schlechtes Sicherheitszeugnis erhalten so die Atommeiler Biblis A und B, Brunsbüttel, Isar 1 und Krümmel. Die Gesellschaft für Anlagen und Reaktorsicherheit hatte deshalb angeregt, in Passagiermaschinen eine Spezialelektronik einzubauen, die ein Flugzeug automatisch umroutet, sobald es vom Kurs abweicht und sich einer Atomanlage nähert. Auch hier gibt niemand offizielle Auskunft, ob das umgesetzt wurde. Stattdessen verweisen die zuständigen Genehmigungsbehörden darauf, dass in unmittelbarer Nähe von Atomreaktoren keine Hubschrauber mehr landen dürfen.
Vernebelungsanlagen sollen helfen
30 Kilometer von Karlsruhe entfernt haben die Betreiber des Atomkraftwerks Phillipsburg mit dem Bau einer Vernebelungsanlage begonnen. In nur 40 Sekunden soll das Gelände in dichten Rauchschwaden verschwinden. "Das ist Unfug", sagt Tobias Riedl von Greenpeace. "Es haben schon Tests festgestellt, dass Flugzeuge auch per GPS, also über Satellitennavigationssysteme, gesteuert werden können und man nicht in der Lage ist, diese GPS-Koordinaten auch noch auszuschalten. Die Vernebelungskonzepte, die auf den Tisch kommen, nehmen das Problem nicht ernst und bedeuten auch keinen Sicherheitsgewinn."
Es muss nicht einmal zum schlimmsten Unfall kommen. Selbst ein Feuer - egal, ob von einem kleinen Sportflugzeug oder von einem anderen Brandherd außerhalb eines Kraftwerks - könne zu großen Problemen führen, meint Henrik Paulitz von den atomkritischen Ärzten: "Bei einem Brand, der auf ein Atomkraftwerk zuläuft, beziehungsweise beim Brand eines Transformators wird der Reaktor vom Stromnetz genommen. Die Leitungen werden gekappt. Der Betrieb der Notsysteme ist dann unabdingbar. Funktioniert hier etwas nicht, kann das im äußersten Notfall zum Super-GAU führen. Leider gab es bereits bei Testversuchen immer wieder Probleme."
Glaubwürdigkeit der Kritiker?
Wie viel Glauben kann man diesen und ähnlichen Aussagen von Nichtregierungsorganisationen schenken, wenn doch die Betreiber von Atomkraftwerken und selbst die Internationale Atomenergiebehörde den deutschen Atommeilern hohe Sicherheitsstandards bescheinigen?
Henrik Paulitz nennt ein Argument: "Wir berufen uns bei unserer Kritik generell auf Fakten der offiziellen Gutachterorganisationen, die im Schnitt alle sehr atomfreundlich sind, also auf die offiziell anerkannten Experten, auf die Aufsichtsbehörden. Wir berufen uns auf Erkenntnisse der Anlagenbetreiber selbst. Das sind nicht einfach Einschätzungen von Spinnern oder Atomkraftgegnern, sondern Expertenmeinungen der Gegenseite."
Erdbeben und Hochwasser?
Gegen elementare Gefahren wie Hochwasser und Erdbeben sind die deutschen AKWs nach Meinung von Kritikern ebenfalls nur unzureichend geschützt. Im erdbebengefährdeten Rheingraben hat im Jahr 2010 der Reaktorblock Biblis B eine Laufzeitverlängerung erhalten. Henrik Paulitz, der sich beim IPPNW seit Jahren mit den entsprechenden Studien beschäftigt, nennt das unverantwortlich: "Das lässt sich auch in Zahlen beschreiben. Biblis B ist gegen Bodenbeschleunigungen bis 1,5 Metern pro Sekunde zum Quadrat ausgelegt. Die Gutachter sagen, dass am Standort, das Doppelte, also in Zahlenwerten 3 Meter pro Sekunde zum Quadtrat möglich sind. Alleine diese Gegenüberstellung zeigt, dass die Wände viel zu schwach, dass die Rohrleitungen und die Halterungssysteme viel zu schwach sind."
Auch bei häufigen Hochwassern sei schon Flüssigkeit in Reaktorgebäude an Flüssen eingedrungen. Henrik Paulitz warnt auch hier vor dem sogenannten Notstrom-Fall. In der Vergangenheit habe sich wiederholt gezeigt, dass in deutschen Atomkraftwerken der sogenannte "Lastabwurf auf Eigenbedarf" nicht funktioniere.
Prinzip Hoffnung
Seit 1965 wurden über 5600 so genannte meldepflichtige Ereignisse öffentlich bekannt gegeben, kleinere und größere Störfälle also. Damit die Folgen von Feuer, Erdbeben, Hochwasser oder Terrorangriffen nicht irgendwann dazu gehören, müssten die Kraftwerksbetreiber eigentlich nachrüsten. Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts verpflichtet die Betreiber sogar dazu, allerdings mit der Einschränkung, dass Kosten und Aufwand in einem vertretbaren Verhältnis stehen müssten. Meist erscheint den Betreibern der Atomanlagen aber zu teuer, was wünschenswert wäre. In der Vereinbarung zur Verlängerung der Laufzeiten haben sich die Betreiber deutscher Atomkraftwerke von der Bundesregierung sogar zusichern lassen, dass sie Nachrüstkosten zur Modernisierung der Meiler nur bis zu einer Größenordnung von 500 Millionen Euro bezahlen brauchen. Übersteigen die Nachrüstkosten diesen Betrag, dürfen die Unternehmen weniger in den staatlichen Ökofonds einzahlen.
Gerne wird immer wieder auf Risikostudien verwiesen. Eine solche gern zitierte Risikostudie wurde im Jahr 1989 von der Gesellschaft für Anlagen und Reaktorsicherheit angefertigt. Nach dieser Studie ist in einem der deutschen Kernkraftwerke nur alle 33.000 Jahre mit einem schweren Unfall zu rechnen.