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Politik

Die Schicksalsdemo von Leipzig

Mara Bierbach
9. Oktober 2019

Am 9. Oktober 1989 demonstrierten in Leipzig rund 70.000 Menschen für mehr Freiheit und Demokratie. Wider aller Befürchtungen schritten die DDR-Sicherheitskräfte nicht ein. Rückblick auf einen Schicksalstag.

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DDR - Wende - Montagsdemonstration in Leipzig 1989
Bild: picture alliance / Lehtikuva Oy/Heikki Saukkomaa

Es ist kurz nach 18 Uhr, als sich die Türen der Nikolaikirche öffnen und die Menschen aus dem Gottesdienst nach draußen strömen. Vor der Kirche und auf dem Karl-Marx-Platz um die Ecke warten zehntausende Demonstranten auf sie: Jugendliche, junge Familien, Arbeiter, Rentner. Mindestens 70.000 Menschen aus allen Gruppen der DDR-Gesellschaft haben an diesem 9. Oktober 1989 all ihren Mut zusammengenommen, um ein Zeichen gegen das SED-Regime zu setzen. So eine große Demo hat es in der DDR - in der kritische Proteste grundsätzlich verboten sind - seit Jahrzehnten nicht gegeben. 

Viele Demonstranten rechnen mit dem Schlimmsten, auch damit, dass die Polizei auf sie schießen könnte. Panzer und Truppen mit Maschinengewehren stehen in der Stadt bereit, um die Proteste aufzuhalten. Das Tian'anmen-Massaker in China vom Juni 1989 ist noch frisch in Erinnerung.

Doch wie durch ein Wunder lässt die Staatsmacht an diesem Montag die Demonstranten gewähren. Die Menschen strömen durch die Leipziger Innenstadt, auch an der so genannten "Runden Ecke" vorbei, der Leipziger Bezirksverwaltung der Staatssicherheit der DDR. Die Demonstranten rufen "Wir sind das Volk", "Freiheit, freie Wahlen" und "Keine Gewalt". Viele von ihnen halten Kerzen in den Händen.

DDR - Friedensgebet in Nikolaikirche am 09.10.1989
Bei den Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche traf sich die Opposition - auch am 9.10.1989Bild: picture-alliance/ ZB

Zeitzeugen erinnern sich

30 Jahre ist das jetzt her. Doch die, die damals dabei waren, erinnern sich noch heute gut an die Atmosphäre. "An dem Tag war die Luft zum Schneiden gespannt. Die Leute wussten: Heute ist der Tag der Entscheidung", erinnert sich Kathrin Mahler Walther. Sie war damals erst 18 und in der Bürgerrechtsbewegung aktiv. Ihre Heimatstadt Leipzig - die zweitgrößte Stadt der DDR nach Ost-Berlin - war in den 1980er Jahren zu einer der Hochburgen des Widerstandes geworden. Wichtigster Treffpunkt: die Nikolaikirche, wo jeden Montag um 17 Uhr eine Friedensandacht stattfindet. "Als diesem Abend nicht geschossen wurde, war für uns klar: Ab jetzt findet ein Öffnungsprozess statt, ab jetzt findet ein Diskussionsprozess miteinander statt", so Mahler Walther.

Das DDR-Regime steckte 1989, 40 Jahre nach der Gründung des Staates, in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise. Immer mehr Menschen versuchten, auszureisen; die Bürgerrechtsbewegung fand immer breitere Unterstützung. Während Michail Gorbatschow dem großen Bruderstaat Sowjetunion einen Reformkurs auferlegt hatte und sich gleichzeitig Ostblock-Staaten wie Polen und Ungarn öffneten, lehnte das DDR-Politbüro um den langjährigen Staatschef Erich Honecker Reformen kategorisch ab.

Die Macht der (West-) Medien

Das DDR-Fernsehen berichtete natürlich nicht von dem Ereignis. Und doch sollte von der Schlagkraft der Leipziger Demo am 9. Oktober schon bald die ganze Welt erfahren. Zu verdanken war das zwei Kameramännern, die sich in der Leipziger Innenstadt auf einem Kirchturm versteckt hatten und heimlich Aufnahmen von der Demo machten. Einer von ihnen war Siegbert Schefke. Zu sehen, wie viele Menschen da durch die Straßen strömten, sagt er heute, war ein absoluter "Gänsehaut-Moment". Denn ihm wurde klar: "Wenn die Bilder morgen im West-Fernsehen gezeigt werden, das wird nicht nur die DDR und Deutschland verändern, das wird Europa und die Welt verändern." 

Über Nacht wurde das Video-Material zu West-Journalisten geschmuggelt. So erfuhr die DDR-Öffentlichkeit, die zu großen Teilen auch West-Fernsehen empfangen konnte, dass offener Protest gegen das zunehmend geschwächte Regime möglich und mit Gewalt nicht zu rechnen war.

Danach überschlugen sich die Ereignisse. Immer mehr Menschen trauten sich auf die Straße, nicht nur in Leipzig. Erich Honecker wurde gerade mal acht Tage später vom Politbüro abgesetzt - doch auch das war den Menschen nicht genug. In Berlin forderten am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz mindestens eine halbe Millionen Demonstranten Meinungs- und Pressefreiheit.  

Alexanderplatz-Demonstration am 4.11.1989
Zu einer Demonstration am Berliner Alexanderplatz kommen am 4. November mindestens eine halbe Millionen MenschenBild: picture-alliance/dpa

Warum die Lage nicht eskaliert

Aber warum ließen am 9. Oktober Polizisten und Soldaten die Menschen durch Leipzig ziehen? Wieso wurde nicht, wie 1953 in Berlin oder eben im Juni 1989 in Peking, geschossen?

Ein Grund war wohl, dass die Sicherheitskräfte mit der Situation überfordert waren. Sie hatten nicht mit so vielen Demonstranten gerechnet. Und sie hatten sich darauf eingestellt, dass es zu Gewalt seitens der Demonstranten kommen würde. Sie hatten keine Strategie entwickelt, um mit einer komplett gewaltfreien Demonstration umzugehen.

"Es war Konsens unter den Demonstranten, dass man gegen die Polizei keine Gewalt einsetzt, weil man eben wusste: Es steht ein hoch gerüsteter Apparat einem gegenüber, der nur darauf wartet, dass man einen Stein wirft oder einen Polizisten angeht. Nur durch diese unbedingte Gewaltlosigkeit führte man den Staat in die Ohnmacht, weil man ihm keinen Anlass gab, gegen einen vorzugehen", erklärt Historiker Sascha Lange. "Nur mit der Kraft des Wortes und der Masse haben die Demonstranten die SED-Führung und die Polizei geradezu entwaffnet." Sascha Lange hat mit 17 die Demo selbst miterlebt. Außerdem hat er vor kurzem mit seinem Vater das Buch "David gegen Goliath" über die friedliche Revolution veröffentlicht. 

Langes Vater, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange, war einer der "Leipziger Sechs" - eine Gruppe, die mit dafür sorgte, dass am 9. Oktober 1989 in Leipzig kein Blut floss und keine Schlagstöcke flogen. Drei Bezirksleiter der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) und drei prominente Leipziger Bürger (darunter der Dirigent Kurt Masur und Bernd-Lutz Lange) hatten sich damals zusammen gefunden, um sowohl Demonstranten als auch Polizisten und Soldaten zur Besonnenheit aufzurufen. Sie versprachen gleichzeitig, sich für einen freien Meinungsaustausch einzusetzen. Ihr Aufruf wurde während der Demonstration über den Stadtfunk - in der Innenstadt angebrachte Lautsprecher - verbreitet. Die SED-Männer hatten ihr Vorgehen nicht mit ihren Chefs in Berlin abgesprochen.

Brandenburger-Tor bei der Maueröffnung 1989
Nur einen Monat nach der Demonstration fiel in Berlin die MauerBild: picture-alliance/W.Kumm

Zu wenig Anerkennung?

Genau einen Monat nach der Schicksalsdemo von Leipzig fiel am 9. November 1989 die Berliner Mauer - heute weiß fast jeder Deutsche um die Bedeutung diesen Datums. Das, was einen Monat zuvor in Leipzig geschah, ist weitaus weniger bekannt - vor allem bei jungen Menschen und im Westen.

Das stört viele Bürgerrechtler heute. So auch Kathrin Mahler Walther: "Ich halte es für sehr wichtig zu sehen, dass die ostdeutschen Frauen und Männer sich damals selbst befreit haben aus dieser Diktatur, dass sie ihre Angst überwunden haben, gemeinsam demonstriert haben am 9. Oktober und an den Montagen zuvor und an den Montagen danach." Ihr Protest ging in die Geschichte ein - als erste vollkommen friedliche und unblutige Revolution Deutschlands.