Probleme mit der Geschichte
11. September 2010Die Tatsache der polnischen Teilmobilmachung ist ebenso wenig neu, wie die mehr oder weniger massiven Versuche, Polen zumindest eine Mitverantwortung für den Kriegsbeginn andichten zu wollen.
Immerhin hatte bereits die nazideutsche Propaganda versucht, den Überfall auf Polen am 1. September 1939 als Antwort auf polnische "Provokationen" darzustellen. Vorläufiger Höhepunkt dieser Bestrebungen war Hitlers Rede am Vormittag des 1. September 1939, in der er behauptete, seit 5 Uhr 45 Uhr werde "zurück geschossen". Der Diktator bezog sich mit dieser doppelten Lüge auf den Beschuss des polnischen Militärstützpunktes Westerplatte bei Danzig durch das deutsche Schulschiff "Schleswig-Holstein".
Dreiste Lügen
Zum einen hatte allerdings die polnische Armee weder auf das vor Danzig liegende deutsche Schiff, noch auf Einrichtungen oder das Gebiet Nazideutschlands überhaupt Schüsse abgegeben. Zum anderen hatte der deutsche Überfall auf Polen bereits eine reichliche Stunde vor dem in der Propaganda-Rede genannten Zeitpunkt mit Luftangriffen auf die westpolnischen Städte Wielun und Rudniki begonnen.
Der von der Nazi-Propaganda massiv ausgeschlachtete angeblich kriegsauslösende Überfall auf den Reichssender Gleiwitz unweit der polnischen Grenze war von den Nazis selbst inszeniert worden. Um einen Vorwand für den lange geplanten Angriff auf Polen zu liefern, hatte ein als polnische Aufständische getarntes SS-Kommando den Sender am Abend des 31. August 1939 gestürmt. Die Aktion war mehrere Wochen lang unter strikter Geheimhaltung geprobt worden.
Intensive Vorbereitungen
Tatsächlich hatten die latenten Spannungen zwischen Nazideutschland und Polen seit Anfang 1939 weiter zugenommen. Aus Berlin kamen vermehrt territoriale und politische Forderungen an Polen, die ebenso kategorisch wie unerfüllbar waren.
Dazu gehörte unter anderem die Eingliederung der unter Völkerbundmandat stehenden Freien Stadt Danzig ins Deutsche Reich oder die Schaffung einer aus dem polnischen Territorium auszugliedernden deutschen Straße im Transitkorridor durch Polen zur Anbindung der Exklave Ostpreußen an das Reichsgebiet.
Mit Sorge hatte Warschau zudem den deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei im März 1939 beobachtet. Als Reaktion darauf wurde eine erste Teilmobilisierung der polnischen Streitkräfte verfügt. Ende April 1939 kündigte Deutschland dann einseitig den 1934 mit Polen geschlossenen Nichtangriffspakt auf. Im Mai erhielt die deutsche Wehrmacht den Auftrag, konkrete Planungen für einen Krieg gegen Polen in Angriff zu nehmen und einen Einmarsch vorzubereiten.
Am 23./24. August schlossen Polens Nachbarländer Hitlerdeutschland und Stalins Sowjetunion einen Nichtangriffspakt. Ein Zusatzprotokoll regelte die Teilung Polens. Polen reagierte mit einer weiteren Teilmobilmachung am 25. und der Generalmobilmachung am 30. August.
Nazideutschland überfiel Polen am 1. September 1939, zwei Wochen später rückte die Wehrmacht in Warschau ein. Nachdem am 17. September sowjetische Einheiten in Ostpolen eingerückt waren, veranstalteten Wehrmachts- und Sowjetsoldaten am 22. September eine gemeinsame Siegesparade in Brest-Litowsk. Im Juni 1941 überfiel Nazideutschland die Sowjetunion.
Wem hilft die Verdrehung der Geschichte?
Zwar lässt sich aus den historischen Details keine "Mitschuld" Polens oder der Sowjetunion herleiten, doch fehlt es nicht an Versuchen, die Geschichte in genau diese Richtung interpretieren zu wollen. Die wiederholten Versuche der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, einerseits eine gewisse deutsche Kriegsschuld einzuräumen, um andererseits im taktischen Gegenzug dann massiv Schuldzuweisungen zu verteilen, hatten mehrfach für Belastungen der deutsch-polnischen Beziehungen gesorgt.
Neuerliche Belastungen der bilateralen Beziehungen erwartet der polnische Botschafter in Deutschland, Marek Prawda, aber nicht. Die "Passauer Neue Presse" zitiert Marek am Freitag (10.09.2010) mit den Worten: "Die Aussagen, die wir jetzt aus den Teilen des Bundes der Vertriebenen hören müssen, erinnern an die Aussagen aus weniger rühmlichen Zeiten. Der Nazi-Propaganda ging es darum, die Kriegsschuld auf andere zu schieben". Der Botschafter fügte hinzu: "Die deutsch-polnischen Beziehungen sind viel zu stark, um durch so etwas ernsthaft in Gefahr gebracht zu werden."
Der Direktor des Deutschen Polen-Instituts, Dieter Bingen, sagte der "Mitteldeutschen Zeitung", die Äußerungen Steinbachs "erweisen dem Anliegen, das Verständnis für die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Polen und anderswo weiter zu vergrößern, einen Bärendienst - vor allem auch in Deutschland selbst". In der gleichen Zeitung betonte der Vorsitzende des Landesverbandes Thüringen im Bund der Vertriebenen (BdV), Egon Primas: "Es gibt keinen Zweifel, wer den Krieg angefangen hat - nämlich Deutschland. Da ist kein Platz für Interpretationen. Ich bringe für solche Diskussionen wenig Verständnis auf."
Autor: Hartmut Lüning
Redaktion: Kay-Alexander Scholz