Wenn Eltern zu Tätern werden
9. Februar 2014Wenn Gerichtsmediziner Michael Tsokos gerufen wird ist es bereits zu spät. "Da liegt ein kleines Kind vor einem riesigen Turm Geräte auf der Intensivstation und es ist klar: Es wird wahrscheinlich sein Bewusstsein nie wieder erlangen". Tsokos hat dann die Aufgabe, anhand der körperlichen Spuren herauszufinden, wie es zu diesem tragischen Zustand kommen konnte. "Oft heißt es zunächst, das Kind sei von der Couch gefallen. Wenn man den Eltern dann sagt, dass das nicht sein kann, kommt eine neue Version: Das Kind sei am Regal hochgeklettert und heruntergefallen."
Tsokos kennt diese Erklärungsversuche, die sich immer wieder gleichen. "Als ich vor knapp 20 Jahren als junger Assistenzarzt in der Rechtsmedizin angefangen habe, dachte ich immer, das sind Einzelfälle. Es kamen aber immer wieder die selben Fallmuster." Heute ist Tsokos Institutsdirektor für Rechtsmedizin an der Berliner Universitätsklinik Charité. In seiner Laufbahn habe er etwa 80 Kinder obduziert, die an den Folgen körperlicher Misshandlungen gestorben seien. Hinzu kämen hunderte Kinder, die schwerstbehindert überlebten.
Irgendwann, so sagt er, sei ihm "der Kragen geplatzt", und er wollte ein Zeichen setzen. Gemeinsam mit seiner Kollegin Saskia Guddat schrieb er ein Buch über seine Erfahrungen. Der bewusst provokant gewählte Titel: "Deutschland misshandelt seine Kinder."
Streit um die Zahlen
Laut polizeilicher Kriminalstatistik sterben in Deutschland pro Woche etwa drei Kinder an den Folgen körperlicher Misshandlung. Die Täter kommen meist aus dem direkten familiären Umfeld: Vater, Mutter oder deren neue Lebenspartner. Für das Jahr 2012 erfasste die Statistik 3450 Fälle von Kindesmisshandlung. Die Polizei gibt aber an, dass mit einer sehr hohen Dunkelziffer zu rechnen ist.
Wie hoch diese Dunkelziffer tatsächlich ist, darüber gibt es eine breite Diskussion. Tsokos und Guddat sprechen in ihrem Buch von etwa 200.000 misshandelten Kindern pro Jahr und berufen sich dabei auf den Deutschen Kinderschutzbund. Joachim Merchel, Professor im Fachbereich Sozialwesen an der Fachhochschule Münster, hält das für zu hoch gegriffen. Für ihn ist die Zahl der Inobhutnahmen gefährdeter Kinder eine entscheidende Größe - Fälle, in denen Kinder zum eigenen Schutz aus ihren Familien herausgenommen werden. "Da haben wir eine Zahl von 30.200 Inobhutnahmen auf Grund von akuten Gefährdungssituationen für das Jahr 2012." Laut Polizei kommen Studien zu dem Ergebnis, dass etwa zehn bis 15 Prozent aller Eltern schwerwiegende und relativ häufige Körperstrafen bei ihren Kindern anwenden.
Schutz durch Gesetze
Seit November 2000 haben Kinder in Deutschland ein gesetzlich verankertes Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Bis es aber dazu kommt, dass Polizei und Jugendämter in den Familien tätig werden, müssten oft regelrechte Gewaltexzesse stattfinden und diese auch nach außen dringen, so Tsokos.
Doch selbst wenn die Jugendämter einschreiten sind Kinder in Deutschland nur unzureichend geschützt, meint der Rechtsmediziner. Immer wieder gibt es Medienberichte über misshandelte oder getötete Kinder, obwohl das Jugendamt schon seit langer Zeit über gravierende Missstände in den Familien informiert war. Zuletzt wurde der Fall der kleinen Yagmur bekannt, die in Hamburg nach einem Leberriss an ihren inneren Blutungen starb. Laut den Ermittlungsbehörden wurden dem dreijährigen Mädchen die schweren Verletzungen durch den eigenen Vater zugefügt. Die Eltern standen schon in der Vergangenheit unter Verdacht, dass Kind schwer misshandelt zu haben. Trotzdem landete es nach einem Aufenthalt bei einer Pflegemutter wieder bei den leiblichen Eltern.
"Elternführerschein" als Lösung?
Berlins CDU-Generalsekretär Kai Wegner forderte inzwischen die Einführung eines "Elternführerscheins". Werdende Mütter und Väter sollten mit verpflichtenden Erziehungskursen auf ihre Aufgaben vorbereitet werden.
Gerichtsmediziner Tsokos sieht aber ein ganz anderes Problem in Deutschland. So gebe es finanzielle Anreize, gefährdete Kinder so lange wie möglich in ihren Familien zu belassen. "Mit Kinderleid wird hier Geld verdient." Die Jugendämter beauftragten sogenannte freie Träger damit, "Problemfamilien" zu betreuen. "Diese freien Träger verdienen nur so lange Geld, wie die Kinder in den Familien sind."
Joachim Merchel von der Fachhochschule Münster kann diese These nicht nachvollziehen. "Es gibt steigende Zahlen für Heimerziehung und Pflegefamilienunterbringung." Merchel zufolge hat der Staat schon zahlreiche wirksame Mechanismen entwickelt, um Kindern und Eltern Hilfe anzubieten. Trotz der angespannten Finanzlage vieler Kommunen habe es bei den Jugendämtern eine personelle Aufstockung gegeben, sagt der Sozialforscher. "Was eine Gesellschaft bedauerlicherweise akzeptieren muss, ist die Tatsache, dass es selbst bei einer noch so guten Jugendhilfe immer wieder Fälle geben wird, wo Kinder stark zu Schaden kommen oder gar ihr Leben verlieren."