Lesen gegen Populismus
6. September 2016Im weltweiten Maßstab mag eine Landtagswahl in Deutschland, bei der eine rechte Partei aus dem Stand mehr als ein Fünftel aller Wählerstimmen eroberte, unbedeutend sein. Im europäischen Kontext betrachtet, ist dieses Votum angesichts immer mehr erstarkender rechter Parteien - in Frankreich, Österreich, Ungarn, den Niederlanden und anderen Ländern - wenig überraschend. Parteien, die sich als volksnahe Bewegung ausgeben, sind erfolgreich.
Was ist Populismus? Und weshalb sollte er schädlich sein, wo sich doch so viele Menschen für Parteien und politische Anführer mit scheinbar einfachen Lösungsstrategien begeistern? Es sind sicherlich keine erschöpfenden, aber dafür umso qualifiziertere Antworten, die am 7. September während einer weltweiten Lesung für Demokratie ohne Populismus mit einschlägigen Texten anerkannter Philosophen und Autoren gegeben werden. Die Ausgangsfrage stellt ein Text der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy: "Die Frage lautet also: Was haben wir der Demokratie angetan? Zu was haben wir sie gemacht? Was geschieht, wenn sie aufgebraucht, wenn sie hohl und sinnentleert geworden ist?" Ein Ausschnitt aus ihrem Essay "Das schwindende Licht der Demokratie" gehört zu den Texten, die an diesem Tag in Deutschland, Finnland, Litauen, Kroatien, den Niederlanden, Spanien, Schweden und den USA gelesen werden.
Lesungen gegen die politische Lüge
Die weltweiten Lesungen wurden 2006 von der Peter-Weiss-Stiftung für Kultur und Politik in Berlin anlässlich des dritten Jahrestages des Kriegsbeginns im Irak initiiert. Kulturinstitutionen wie Literaturhäuser, Theater und interessierte Personen in verschiedenen Städten werden seither in unregelmäßigen Abständen, zum Teil mehrfach im Jahr, zu Lesungen aufgerufen. Das Internationale Literaturfestival Berlin hat den Aufruf für die Lesungen und eigene Veranstaltungen dazu seither in sein Programm aufgenommen. Die Lesungen greifen weltweit relevante politische Themen auf, aber auch das Schicksal politisch engagierter Persönlichkeiten: Gelesen wurde schon für die ermordete Tschetschenien-Reporterin Anna Politkowskaja, für Edward Snowden, den chinesischen Friedensnobelspreisträger Liu Xiaobo und andere verfolgte oder ermordete Aktivisten. Die letzte Lesung im Januar galt dem in Saudi-Arabien verurteilten Dichter und Kurator Ashraf Fayadh.
Das Engagement der Veranstalter und der Teilnehmer wendet sich generell gegen "die politische Lüge". Ziel der Veranstaltungen und Aktionen soll es sein, das Bewusstsein über Inhalte und Formen politischer Kommunikation zu erhellen. In diesem Sinne begründet die Stiftung ihren aktuellen Aufruf: "Populismus ist eine politische Position, die sich den vorherrschenden Gefühlen, Vorurteilen und Ängsten der Bevölkerung anpasst und diese ausnutzt, um eine politische Agenda zu definieren, die die einfache und schnelle Lösung aller Probleme verspricht. (...) Aber die Geschichte zeigt, dass populistische Gefühle schnell von skrupellosen Führern, mögen sie dem rechten oder linken Spektrum angehören, für grausame Zwecke manipuliert werden können."
Lesetexte, die "die Distanz zwischen Gedanken und Ausdruck verringern"
"Es gibt letztlich nur zwei Arten von Todsünden auf dem Gebiet der Politik: Unsachlichkeit und - oft, aber nicht immer, damit identisch - Verantwortungslosigkeit". Einer der zu lesenden Texte, ein Ausschnitt aus Max Webers "Politik als Beruf", begründet, wie wichtig es für Politiker ist, der Versuchung zu widerstehen, in die Fußstapfen von Demagogen zu treten.
Weiterer Lesestoff, ein Auszug aus Hannah Arendts "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" von 1986, wirkt erneut als hochaktuelle Warnung: "Es war charakteristisch für den Aufstieg der totalitären Bewegungen in Europa, der faschistischen wie kommunistischen, daß sie ihre Mitglieder aus der Masse jener scheinbar politisch ganz uninteressierten Gruppen rekrutierten, welche von allen anderen Parteien als zu dumm oder zu apathisch aufgegeben worden waren." Weitere, englischsprachige Texte von Edward Said (Ausschnitte aus der Einleitung von "Orientalism"), George Orwell (Ausschnitte aus "Politics and the English Language" und aus "Notes on Nationalism") sowie E. M. Forster (Ausschnitte aus "What I believe" von 1938) und Susan Sontag (Auszüge aus einer Rede von 1982) versuchen, "die Distanz zwischen Gedanken und Ausdruck zu verringern". Schöner als Arundhati Roy kann man dem, was Schriftsteller und Denker leisten, kaum Form verleihen.