Immer mehr HIV-Infektionen in Brasilien
1. Dezember 2019Schon seit 1996 garantiert der brasilianische Staat die kostenlose Behandlung für HIV-Patienten in den öffentlichen Krankenhäusern. Das staatliche Gesundheitssystem SUS bietet ihnen den Zugang zu kostenlosen Medikamenten. Das Gesundheitsministerium schätzt, dass derzeit rund 866.000 Brasilianer HIV-positiv sind. Mehr als eine halbe Million von ihnen wird durch das SUS medizinisch begleitet.
Die HIV/Aids-Programme des SUS sind eine Erfolgsgeschichte. Seit 1996 ist die Lebenserwartung nach einer Infektion von damals durchschnittlich fünf auf nun zwölf Jahre gestiegen, wie Zahlen des Gesundheitsministeriums zeigen. Die Neuinfektionen blieben weitgehend konstant, in einigen Risikogruppen sank die Zahl sogar zeitweise.
Doch zuletzt nahm die Zahl der Neuinfektionen wieder zu, wie eine Studie von UNAIDS ergab. UNAIDS ist das 1994 gegründete Programm der Vereinten Nationen zur Reduzierung von HIV/Aids. Wurden im Jahr 2010 noch 44.000 Neuinfektionen in Brasilien registriert, so waren es 2018 bereits 53.000, eine Zunahme von rund 21 Prozent. Und deutlich mehr als die durchschnittliche Zunahme von 7 Prozent in diesem Zeitraum in ganz Lateinamerika.
Wenige Vorbeugungsmaßnahmen
"Dahinter steckt die niedrige Zahl von Vorbeugemaßnahmen in den letzten Jahren", sagt Veriano Terto Jr., Vize-Präsident der Interdisziplinären Vereinigung für Aids (ABIA). So hätten sowohl die Zentralregierung wie auch die lokalen Behörden ihre öffentlichen Kampagnen drastisch heruntergefahren: "Man hüllte sich zum Thema Aids schlicht in Schweigen, und die Regierungen vergaßen, sich darum zu kümmern. Auch an den Schulen wurden weniger Präventionskampagnen durchgeführt."
Hinter dem Rückgang von Aufklärungskampagnen stecke jedoch auch der gesellschaftliche Trend hin zu einem stärkeren Konservatismus, glaubt die AIDS-Spezialistin Wilza Villela. "Die Regierungen mussten immer mehr Zugeständnisse an die konservativen Kräfte machen, um noch regieren zu können."
So habe es in Schulen stets Widerstand gegen den Sexualkundeunterricht und die Aufklärung über Krankheiten gegeben. Jedoch war der Druck von Seiten der Behörden früher stärker. Doch in den letzten Jahren sei der Widerstand gegen das Verteilen von Kondomen an den Schulen stärker geworden, und die Lehrer zeigten immer weniger Bereitschaft mitzumachen. "Die Kampagnen an den Schulen wurden schwächer, weil nicht mehr genug Druck von den Behörden kam", so die Ärztin im Gespräch mit der DW.
Kampagnen mit Fokus auf traditionellen Risikogruppen
Mit dem Einsetzen der Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2013 strich die öffentliche Hand zudem nicht nur Gelder für Aufklärungskampagnen. Sie kündigte auch die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft auf, deren NGOs bisher das Rückgrat der Anti-Aids-Kampagnen bildeten.
Stattdessen übergab man die Verantwortung für die Aufklärung an das SUS. "In der Theorie war das richtig, in der Praxis ging es nach hinten los", urteilt Villela. Die Mitarbeiter des SUS, sagt sie, mögen ja guten Willens sein, aber sie seien nicht für die Aids-Prävention ausgebildet: "Man stelle sich da einen normalen Mitarbeiter des SUS vor, der an den Haustüren klingelt. Wenn der überhaupt über Kondome redet, dann wird es meist oberflächlich oder es gleitet in die allgemeinen Vorurteile gegenüber Schwulen ab."
So konzentrierte das SUS die Kampagnen auf die traditionellen Risikogruppen: Prostituierte, Drogensüchtige und homosexuelle Männer. Doch ohne die Arbeit der NGOs seien diese Gruppen nicht zu greifen, so Villela. Viele Frauen würden somit zwischen einem normalen Leben und der Prostitution hin und her wechseln, während Drogensüchtige oft schlicht sterben oder ins Crack-Milieu abgleiten. Besonders in großen Städten wie São Paulo und Rio de Janeiro ist dieses Problem akut. Und dann seien da noch die homosexuellen Männer, die es mit der Zeit leid wurden, Kondome zu benutzen, analysiert die Spezialistin.
Widerstand gegen Kondome
Ein weiterer Trend ist der allgemein wachsende Widerstand gegen das Benutzen von Kondomen. Zwar verteilen die Behörden alleine zum berühmten Karneval Brasiliens bis zu 100 Millionen Kondome. Doch eine Untersuchung aus dem Jahr 2018 ergab, dass unter Jugendlichen der Gebrauch von Kondomen rückläufig ist. Sowohl beim Sex mit wechselnden als auch mit dem festen Partner.
Die rückläufige Frequenz von Kampagnen an den Schulen hat zur Folge, dass die Benutzung von Kondomen abnimmt, je jünger die befragten Personen sind. Unter Jugendlichen im Alter von 15 bis 19 Jahren nahmen die Infizierungen demnach von drei pro 100.000 Einwohnern im Jahr 2006 auf 5,4 Fälle 2016 zu.
"Das Kondom war schon immer eine Art Schranke, die man überwinden musste. Aber solange es einen kompetenten öffentlichen Politikansatz gab, konnte man die Infektionen trotz dieses Widerstands runterdrücken", erinnert Villela. So habe die Bereitschaft, Kondome zu benutzen, in den 1990er Jahren bis etwa 2007 zugenommen.
Konservative Haltung
Auch deshalb seien Beratungsgespräche weiterhin wichtig. In denen habe er aber eine immer stärkere konservative Grundhaltung der Menschen beobachtet, sagt Terto der DW. Man spreche nicht mehr über Vorbeugung oder über Sexualität. "Dabei ist Sex natürlich der Moment, in dem es zu den meisten Infektionen kommt."
Gleichzeitig glauben immer noch viele Menschen, dass nur die klassischen Risikogruppen bedroht seien. Menschen, die keiner von ihnen angehören, ließen sich kaum präventiv untersuchen, sondern erst, wenn sich die Krankheit manifestiere. "Dieses Stigma ist immer noch das größte Hindernis für die Behandlung von Aids in Brasilien. Das führt dazu, dass 30 Prozent der Erkrankungen erst spät entdeckt werden, eine hohe Zahl für ein Land, in dem jeder freien Zugang zu Medikamenten hat."
Globales Vorbild?
Mittlerweile könne Brasilien nicht mehr als globales Vorbild für den Kampf gegen HIV/Aids gelten, sagt Terto: "Wir haben zwar gute Erfahrungen, die wir bewahren müssen. Brasilien hat gezeigt, dass ein Schwellenland mit politischem Willen und Weitsicht ein Programm, das für alle offen ist, auf die Beine stellen und damit die Todesraten reduzieren kann." In den letzten Jahren habe jedoch sowohl die Unterstützung durch die lokalen Regierungen wie auch durch die internationalen Aids-Agenturen gefehlt.
"Die Garantie, dass jeder Zugang zur öffentlichen und kostenfreien Behandlung hat, ist immer noch ein Vorbild, selbst wenn wir mittlerweile zur Praxis des 'Testen und Behandeln' übergegangen sind", behauptet Villela. "Es hat immerhin dazu geführt, dass die Zahl der Patienten zugenommen hat. Früher haben wir meist erst dann mit der Behandlung begonnen, wenn die Viruslast schon sehr hoch war", so die Spezialistin. "Heute ist das anders, die Behandlung beginnt, sobald man die Infektion entdeckt hat."