Politische Debatte über eine "unbegreifliche Tat"
20. Dezember 2016Trüber Eisnebel liegt über Berlin und hüllt auch das Regierungsviertel am Tag danach in einen grauen Schleier. Auf dem Reichstag und vor dem Kanzleramt sind die Fahnen wie bei allen anderen öffentlichen Gebäuden auf Halbmast gesetzt und hängen schlaff herunter. So gedrückt die Stimmung ist, so betriebsam ist die politische Maschinerie angelaufen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat das Sicherheitskabinett einberufen, dem eine Reihe Minister und die Chefs der Sicherheitsbehörden angehören.
"Wir haben inzwischen keine Zweifel mehr, dass es sich bei dem Ereignis um einen Anschlag handelt", sagt Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Die Kanzlerin nennt den Terroranschlag eine "grausame und unbegreifliche Tat". Kurz nach dem Anschlag am Montagabend hatte Merkel lediglich ihren Sprecher Steffen Seibert eine Anteilsbekundung twittern lassen. Ganz in schwarz nimmt sie nun auch persönlich Stellung und kündigt ein hartes Vorgehen des Rechtsstaats an. Die Tat werde aufgeklärt werden, "in jedem Detail, und sie wird bestraft werden, so hart es unsere Gesetze verlangen".
Ein Flüchtling? Das wäre widerwärtig
Über den mutmaßlichen Attentäter heißt es zu diesem Zeitpunkt, dass es sich um einen 23 Jahre alten Flüchtling aus Pakistan handeln soll. "Ich weiß, dass es für uns alle besonders schwer zu ertragen wäre, wenn sich bestätigen würde, dass ein Mensch diese Tat begangen hat, der in Deutschland um Schutz und Asyl gebeten hat", sagt die CDU-Vorsitzende dazu. "Dies wäre besonders widerwärtig." Später wird sich rausstellen, dass die Polizei Zweifel daran hat, ob sie den Richtigen festgenommen haben.
Ihre Stellungnahme liest Angela Merkel sorgfältig ab. Nur nichts Falsches sagen, sie weiß, jedes Wort wird auf die politische Goldwaage gelegt werden. Deutschland solle sich durch den Anschlag in Berlin nicht einschüchtern oder von seiner freien Lebensart abbringen lassen, fordert Merkel die Bürger auf. "Wir wollen nicht damit leben, dass uns die Angst vor dem Bösen lähmt." Auch, wenn es in diesen Stunden schwer falle: "Wir werden die Kraft finden für das Leben, wie wir es in Deutschland leben wollen – frei, miteinander und offen."
Kritik aus Bayern
Aufbauende Worte, die an diesem Dienstag viele Politiker finden. Der Angriff werde die deutsche Gesellschaft nicht in ihren Überzeugungen erschüttern, sagt Bundespräsident Joachim Gauck. "Der Hass der Täter wird uns nicht zu Hass verführen." In Deutschland zähle das Recht und die Menschlichkeit.
"Es kann Berlin nicht geben ohne das friedliche Zusammenleben der Menschen aus allen Nationen, aller Religionen und aller Lebensweisen", appelliert Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller. "Nach wie vor oder gerade auch in dieser Situation kommt es darauf an, sich das immer wieder klar zu machen und das auch zu bewahren." Müllers Innensenator, der SPD-Politiker Andreas Geisel ergänzt: "Abschottung oder die Abschaffung demokratischer Werte können keine Antwort sein."
Doch es sind auch andere Töne zu vernehmen. Der saarländische Innenminister Klaus Bouillon sieht Deutschland nach dem Anschlag in Berlin im Kriegszustand, "obwohl das einige Leute, die immer nur das Gute sehen, nicht sehen möchten", so der CDU-Politiker. Wo erforderlich, werde die Polizei zukünftig mit "schwerem Gerät" antreten. "Das heißt: Langwaffen, Kurzwaffen, Maschinenpistolen."
Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer fordert einen Kurswechsel in der Zuwanderungspolitik. "Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu ausrichten", erklärt der CSU-Chef in München. Sein Innenminister Joachim Herrmann fügt hinzu, die Politik müsse sich jetzt "mit der Frage beschäftigen, welche Risiken wir mit dieser großen Zahl von Flüchtlingen ins Land bekommen".
Stunde der Demagogen
Eine Frage, die für die AfD, die Alternative für Deutschland, ganz oben steht. "Wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben", schreibt die Parteivorsitzende Frauke Petry in einer Presseerklärung. "Das Milieu, in dem solche Taten gedeihen können, ist in den vergangenen anderthalb Jahren fahrlässig und systematisch importiert worden." Deutschland sei nicht mehr sicher, fasst die AfD-Chefin ihre politische Botschaft zusammen. "Wir fordern aber, dass unsere so unverantwortlich offen gehaltenen Grenzen endlich wieder kontrolliert werden." Die Polizei und die Geheimdienste müssten aufgerüstet, potenzielle Terroristen und sogenannte Gefährder rigoros abgeschoben werden.
Im Vergleich zum nordrhein-westfälischen AfD-Vorsitzenden Marcus Pretzell muten Petrys Aussagen noch zurückgenommen an. "Wann schlägt der deutsche Rechtsstaat zurück? Wann hört diese verfluchte Heuchelei endlich auf?", hatte Pretzell bereits eine Stunde nach dem Anschlag am Montagabend über Twitter verbreitet. "Es sind Merkels Tote!" Dafür erntet er breite Kritik, auch von Bundestagspräsident Norbert Lammert. "Wer solche öffentlichen Erklärungen abgibt, zum Teil nur kurze Zeit nach dem Anschlag, will keinen Beitrag zur Lösung eines Problems leisten, sondern den Anschlag für eigene Zwecke nutzen", so der CDU-Politiker. "Das lässt jeden Respekt vor dem Leid der Opfer und ihrer Angehörigen vermissen, denen unser ganzes Mitgefühl und unsere Solidarität gilt."
2500 Weihnachtsmärkte in Deutschland
Aus Rücksichtnahme gegenüber den Opfern sollen die über 60 Weihnachtsmärkte in Berlin am Tag nach dem Anschlag geschlossen bleiben. Bundesweit hingegen nicht. Damit soll auch ein Signal gesendet werden. Bundesinnenminister Thomas de Maizière und seine Kollegen aus den Bundesländern haben allerdings stärkere Polizeipräsenz angekündigt. Doch jeder weiß, dass es unmöglich sein dürfte, jeden der rund 2500 Weihnachtsmärkte in Deutschland so zu bewachen, dass dort nichts mehr passieren kann.