Das Millardenpuzzle
6. Januar 2011Zwei Pappdeckel, ein metallener Sicherheitsbügel: ein einfacher Akten-Ordner konnte viele Archivalien vor der vollständigen Zerstörung retten. "Gute deutsche Wertarbeit", scherzte die Chefin des Kölner Stadtarchivs, Dr. Bettina Schmidt-Czaia auf der Pressekonferenz, bei der jetzt eine erste Schadensbilanz des Unglücks gezogen wurde. Knapp zwei Jahre nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs kann von Rettung des kostbaren Archivgutes keine Rede sein. 85 Prozent der verschütteten Materialien sind zwar notdürftig geborgen, ob allerdings die durchnässten, zerfetzten und unter Tonnen von Bauschutt begrabenen Dokumente, Bücher, Akten und Fotobestände wieder herzustellen sind, ist noch nicht abzuschätzen. 35 Prozent der geborgenen Bestände sind schwer beschädigt, 50 Prozent haben mittlere Schäden und nur 15 Prozent weisen leichte Schäden auf.
300 Wannen mit Papier-Fragmenten
Am 3. März 2009 war das Gebäude nach einem unterirdischen Wassereinbruch in sich zusammen gestürzt. In den benachbarten Wohnhäusern, die mit in die Baugrube des neuen U-Bahntunnels stürzten, starben zwei Menschen. Bis heute ist die Schuldfrage nicht abschließend geklärt, die Staatsanwaltschaft ermittelt noch. Monatelang musste die Stadt Köln um den Erhalt ihres kulturellen Gedächtnisses bangen. Inzwischen geht der Schaden des Unglücks in Millardenhöhe. Allein die Restaurierungskosten beziffert die Archivdirektorin auf über 500 Millionen Euro, die Personalkosten für zusätzliche Restauratoren und Archivfachkräfte nicht eingerechnet. Das größte Unglück ist allerdings, dass die über Jahre zusammengesammelten Archivalien nicht mehr an einem Ort sind. Kriege, Bombenangriffe und sogar Naturkatastrophen der Neuzeit hatten sie unbeschadet überstanden hat. Jahrzehnte wird es dauern, bis wieder eine neue Ordnung hergestellt werden kann. Bis dahin müssen Studenten aus aller Welt mit Mikrofilmen arbeiten. Ziel ist es, gleich ein vollständig digitalisiertes Archiv mitzuentwickeln, das rund um den Erdball eingesehen werden kann – online in digitalen Lesesälen. Auch Forscher in Japan oder Südamerika könnten dann mit den historischen Dokumenten arbeiten. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Wert des Kölner Archivs spät erkannt
In 20 "Asylarchiven" in ganz Deutschland arbeiten Fachleute und Restauratoren mit Hochdruck an der Erfassung der geretteten Materialien. Alles wird derzeit digitalisiert und in drei Schadensklassen eingeteilt, um die umfassenden Restaurierungsarbeiten überhaupt planen zu können. Private Werkstätten und andere Landesarchive, auch in Berlin, Niedersachsen und Sachsen, haben bereits ihre Hilfe angeboten. Vieles wurde erst einmal gefriergetrocknet, um den Zerfall von Papier und Pergamenten aufzuhalten. Auch die Forschungsinstitute der Fraunhofer-Gesellschaft helfen mit speziellem Fachwissen: Sie setzen Computer-Software ein, die zur Rekonstruktion der geschredderten Stasi-Unterlagen entwickelt wurde. Allerdings, räumt Direktorin Bettina Schmidt-Czaia ein, handelte es sich da um maschinenbeschriebene glatte Seiten aus gerade mal 40 Jahren. Die zerfledderten Kölner Archivalien umfassen dagegen Bestände aus knapp tausend Jahren, die ältesten Urkunden stammen aus dem Jahr 952. Viele mittelalterlichen Handschriften sind völlig aufgeweicht und haben unregelmäßige, zerfetzte Bruchkanten, was die Zuordnung der zum Teil kleinsten Schnipsel sehr schwer macht.
Restauratoren zum Wideraufbau dringend gesucht
In diesem Jahr 2011 könnte sie über 100 zusätzliche Mitarbeiter einstellen. Aber für Köln sieht sie wenig Chancen, da die großen Staatsarchive mit unbefristeten Stellen und Pensionsanspruch werben. "Was hier lockt, ist nur das Abenteuer bei so einer historischen Mammutaufgabe mitzuhelfen." Erfreut ist sie aber über den großen internationalen Zuspruch. Der Nachlass eines so berühmten Schriftstellers und Literatur-Nobel-Preisträgers wie Heinrich Böll ist eben nicht nur eine "kölsche" Angelegenheit.