62. Berlinale: Film ab
9. Februar 2012Von einem Schwerpunkt zu reden bei einem solch großen Filmfestival wie der Berlinale ist - bei allem Respekt - natürlich Unsinn. "Aufbrüche und Umbrüche in der Gesellschaft" soll dieses Thema beim diesjährigen Festivaljahrgang sein. So zumindest hat es Berlinale-Chef Dieter Kosslick formuliert. Doch das hätte in den letzten Jahren auch gepasst. Bei 400 Filmpremieren lassen sich immer Dutzende Beiträge finden, die von gesellschaftlichen Umbrüchen handeln. Wenn dann auch noch private Brüche als Thema vieler Filme als Tendenz verkauft wird, dann ist die zwanghafte Suche nach einem Motto für die Berlinale 2012 eine Farce. Welche Filme handeln nicht davon?
Verzicht auf Regiegrößen - Chance und Risiko
Wichtiger als das unerquickliche Aufspüren eines Mottos für ein großes und ausuferndes Filmfestival ist die Qualität der gezeigten Werke. Und die lässt sich immer erst nach der Sichtung bewerten. In den letzten Jahren sind Kosslick und sein Team wegen der mangelnden Qualität vieler Wettbewerbsfilme hart kritisiert worden. So ist man gespannt, wie die Konkurrenz um den Goldenen und die Silbernen Bären diesmal ausfällt. Man findet kaum berühmte Namen oder bekannte Regiegrößen unter den angekündigten Filmen. Die geben dem Festival in Cannes nach wie vor den Vorzug. Und Hollywood hat sich in den letzten Jahren auch rar gemacht in Berlin. Der Einsatz der großen US-Filme beim Festival an der Spree ist aus marketingtechnischer Sicht nicht nötig oder sogar hinderlich.
Das alles muss kein Nachteil für die 62. Berlinale (9.2.-19.2.2012) sein. Debütanten, unbekannte Regisseure, fremde Kinonationen - all das kann auch eine Chance sein. Wenn die Filme nur gut sind. In diesem Jahr laufen 23 Beiträge im Wettbewerb, fünf davon außer Konkurrenz. Das deutsche Kino ist stark vertreten. Renommierte Regisseure einer mittleren Generation wie Hans-Christian Schmid, Matthias Glasner und Christian Petzold schicken ihre neuen Arbeiten ins Rennen. Es sind drei Geschichten über private Nöte und Konflikte in Familie und Beziehung. Darüber hinaus stehen weitere internationale Co-Produktionen mit deutschem Geld auf dem Programm. Das zumindest ist ein eindeutiger Trend der vergangenen Jahre: die Globalisierung fördert die Zusammenarbeit von Produzenten aus verschiedenen Ländern. Der Begriff einer nationalen Kinematografie löst sich mehr und mehr auf.
Starke europäische Präsenz
Das europäische Kino ist 2012 im Wettbewerb gut vertreten mit Filmen aus Frankreich, Italien, Portugal und Spanien, Dänemark, Griechenland sowie Ungarn. Eröffnet wird das Rennen um die Bären vom französischen Film "Les Adieux à la reine", der das höfische Leben während der Revolution von 1789 zeigt.
Dagegen ist der Ehrgeiz der Berlinale, ein Schaufenster zum osteuropäischen Kino aufzustoßen, schon seit einigen Jahren erlahmt. Aus Russland findet sich beispielsweise gar kein Film im Wettbewerb. China ist mit drei Arbeiten vertreten. Auf zwei davon darf man sehr gespannt sein. "Land des weißen Hirsches" ist ein Dreistunden-Epos über 1000 Jahre chinesische Geschichte von Regisseur Wang Quan'an, der vor fünf Jahren schon einmal den Goldenen Bären mit nach Hause nehmen konnte.
"The Flowers of War" (außer Konkurrenz) vom chinesischen Regiegroßmeister Zhang Yimou ist mit US-Geldern produziert und behandelt das Massaker der Japaner von Nanking aus dem Jahre 1937. Der Film ist in China bereits angelaufen und wurde von der westlichen Presse als arg nationalistisch gescholten. Beiträge von den Philippinen und aus Indonesien ergänzen den kleinen Asien-"Schwerpunkt" der Wettbewerbskonkurrenz. Der "unbekannte Filmkontinent" Afrika steuert immerhin einen Beitrag aus dem Senegal bei.
Amerika schließlich hält sich aus besagten Gründen zurück und ist im Wettbewerb nur mit einem einzigen Werk vertreten. Der Regisseur und Schauspieler Billy Bob Thornton erzählt in "Jayne Mansfield's Car" von einem Familiendrama in den USA in den späten 1960er Jahren.
Doch auf Stars aus Hollywood muss die Berlinale trotzdem nicht verzichten. In Sondervorführungen abseits des Wettbewerbs werden einige Filme aus der Traumfabrik gezeigt. Produzenten und Darsteller nutzen den Roten Teppich vor dem Berlinale-Palast als glamouröses Sprungbrett für den ganz normalen Kinostart. So werden unter anderem Twilight-Jungstar Robert Pattinson, Christian Bale, Uma Thurman, Michael Fassbender und Keanu Reeves in Berlin erwartet. Und natürlich Angelina Jolie. Die stellt ihren ersten Film als Regisseurin vor: das düstere und ohne jedes Hollywood-Ende auskommende Bosnien-Drama "In the Land of Blood and Honey". In den Schatten gestellt werden die US-Stars wohl noch vom indischen Schauspieler und Frauenschwarm Shah Rukh Khan. Der reist bereits zum dritten Mal an die Spree und dürfte wieder für einen beträchtlichen Fanrummel sorgen.
Forum & Panorama: Politisches Kino
Doch die Berlinale ist nicht nur wegen der Bären-Konkurrenz eines der wichtigsten Festivals der Welt. Gerade die vielen interessanten Filme in den Sektionen "Forum" und "Panorama" machen den besonderen Reiz des Festivals aus. Da laufen häufig Werke aus hierzulande fremderen Kinonationen, formal ausgefallene Filme, Dokumentationen und vor allem politisch engagiertes Kino. Und dann gibt es noch die filmhistorisch wichtige "Retrospektive", die sich in diesem Jahr einem deutsch-russischen Studio widmet, außerdem die Reihe "Kulinarisches Kino", den Talent Campus, die Hommage an die Schauspielerin Meryl Streep, eine Reihe zum 100. Jubiläum des Studios Babelsberg sowie zwei Sektionen, die sich ausschließlich dem neuen deutschen Kino widmen.
Einen Überblick über all die gezeigten Filme und Veranstaltungen hat inzwischen wohl niemand mehr. Man muss sich konzentrieren und beschränken. Von manchen Festivalbeobachtern wird dieses Überangebot, das in den letzten Jahren immer unübersichtlicher wurde, kritisiert. Doch Dieter Kosslick weist - ganz zu Recht - auf den großen Publikumszuspruch hin. Wenn die allermeisten Vorstellungen des Festivals ausverkauft sind, dann kann das Konzept so falsch nicht sein. Rund 300.000 Zuschauer haben im vergangenen Jahr die Kinos der Berlinale gestürmt. Das wird wohl auch dieses Jahr wieder so sein. Das sind schöne Aussichten für das größte Publikumsfilmfestival der Welt. Über ein künstlich aufgepfropftes Motto denkt dann sowieso keiner mehr nach.
Autor: Jochen Kürten
Redaktion: Silke Wünsch