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Die radikale Vorgeschichte des NSU

23. November 2017

In welchem kulturellen und wirtschaftlichen Umfeld haben sich die Mitglieder der rechten Terrorgruppe NSU bewegt? Ein Anwalt der Nebenkläger skizziert die Entstehungsgeschichte. Marcel Fürstenau aus München.

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Fahndungsfoto 1998 Neonazi Trio Böhnhard Zschäpe Mundlos Terrrorismus
Bild: picture-alliance/dpa

"Nationalsozialistischer Untergrund" - diesen Namen hat sich die rechte Terrorgruppe selbst gegeben. Aber bestand sie wirklich nur aus Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, wie die Bundesanwaltschaft meint? Die Nebenkläger im NSU-Prozess vor dem Münchener Oberlandesgericht sind vom Gegenteil überzeugt. Dabei stützen sie am Donnerstag ihre Argumentation nicht nur auf die im Sommer abgeschlossene Beweisaufnahme. Rechtsanwalt Peer Stolle, der einen Sohn des NSU-Opfers Mehmet Kubasik vertritt, holt weit aus. Zeitlich und damit historisch geht er zurück bis zum Ende der DDR-Diktatur.    

Der NSU, sagt Stolle, sei das Ergebnis einer spezifischen Situation, die man in den 1990er Jahren in Ostdeutschland, vor allem in Thüringen vorgefunden habe. Aus diesem Bundesland stammt das NSU-Trio, von dem nur Zschäpe wegen zehnfachen Mordes, Bombenanschlägen und Raubüberfällen angeklagt werden konnte. Ihre Gesinnungsfreunde hatten sich kurz vor der Selbstenttarnung am 4. November 2011 das Leben genommen. 

"Es braucht ideologischer Festigkeit und Entschlossenheit"

In welchem geistigen, kulturellen und wirtschaftlichen Umfeld sich die drei als Heranwachsende bewegten war immer wieder Thema im NSU-Prozess. Auch darauf bezieht sich Nebenkläger-Anwalt Stolle, wenn er die Aussagen von Zeugen aus der rechten Szene in Beziehung setzt mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der Zeit des Umbruchs. Er erwähnt die rassistischen Pogrome von Hoyerswerda 1991 und Rostock 1992. "Aber das allein lässt keinen NSU entstehen", sagt Stolle.

Ausschreitungen Rostock Lichtenhagen 1992
Im August 1992 setzten Rassisten in Rostock-Lichtenhagen nicht nur Autos, sondern auch eine Asylbewerber-Unterkunft in BrandBild: picture-alliance/ZB/B. Wüstneck

Es brauche ideologische Festigkeit und Entschlossenheit und eines Netzwerkes, "um 13 Jahre im Untergrund zu leben". Das taten Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos seit 1998. Und es bedürfe Sicherheitsbehörden, die den Gefahren nicht begegnen, "sondern ihre schützende Hand" über die Szene hielten, ergänzt Stolle. Damit attackiert er, wie bislang alle Nebenkläger-Anwälte, die Rolle der Polizei und des Verfassungsschutzes. Beiden werfen sie Versagen und sogar Kumpanei vor.  

"Die Angeklagten haben die Stimmung mitgeschaffen"

Wer in dieser Zeit gelebt habe, dem seien die Bilder allgegenwärtig: Skinheads, die durch Straßen gezogen seien, Reichskriegsflaggen, Gewalt gegen politische Gegner oder Migranten. "Die Angeklagten wissen, von welcher Stimmung ich rede, sie haben sie miterlebt und mitgeschaffen", wirft der Nebenkläger-Anwalt Zschäpe und den vier wegen Unterstützung des NSU Mitangeklagten vor. Die Stimmung, von der Stolle spricht, "wurde in diesem Verfahren fast komplett ausgeblendet".

Eine zentrale Rolle bei der Radikalisierung spielten nach Stolles Überzeugung der vom Verfassungsschutz-Spitzel Tino Brandt gegründete "Thüringer Heimatschutz" (THS) und die "Kameradschaft Jena". Deren Motto sei "Taten statt Worte" gewesen - aber: "Die Umsetzung dieser Programmatik erfolgte nicht erst nach dem Abtauchen des NSU-Trios." Stolle listet eine ganze Reihe von militanten Aktionen Mitte der 1990er Jahre auf, die den rechtsextremen Organisationen zugerechnet werden: Bombenattrappen, Transparente mit SS-Runen oder ein Puppen-Torso mit Davidstern und der Aufschrift "Jude" an einer Autobahnbrücke.

"Diese Taten folgten einem Schema der Eskalation"

An vielen dieser Aktionen waren Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos nachweislich beteiligt. Das gilt auch für den ebenfalls im NSU-Prozess angeklagten Ralf Wohlleben. Diese Taten, argumentiert Stolle in seinem Plädoyer, seien einem Schema der Eskalation gefolgt. Es sei offensichtlich so angelegt gewesen, "dass als nächstes ein echter Sprengsatz zum Einsatz kommen sollte". Zum Beleg seiner These verweist der Nebenkläger-Anwalt auf eine von Zschäpe in Jena angemietete Garage. Dort wurden bei einer Durchsuchung 1998 neben Propaganda-Material Sprengstoff und eine Rohrbombe gefunden.

Tino Brandt NPD Archiv 2001
Neonazi, Kopf des "Thüringer Heimatschutzes" und Spitzel des Verfassungsschutzes: Tino Brandt Bild: picture-alliance/dpa

Unmittelbar danach gingen Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos in den Untergrund. Die zunehmende rechtsextremistische Radikalisierung in einer von Norm- und Werteverfall geprägten Zeit wurde während der Beweisaufnahme im NSU-Prozess immer wieder gestreift. Aus Stolles Sicht allerdings viel zu wenig. Aber trotz aller "Lügen und Verharmlosungen" von Zeugen und Angeklagten habe die Beweisaufnahme ein klares Bild der "Kameradschaft Jena" ergeben.

"Die Sache stinkt, das kann jeder riechen"

Auch die Bundesanwaltschaft habe deren besondere Gewaltbereitschaft gesehen, aber nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen, bedauert Stolle. Die hätten seines Erachtens darin bestehen müssen, den NSU-Kreis weiter zu ziehen. Der NSU sei kein Trio gewesen, wie es die Bundesanwaltschaft Glauben machen wolle, sagt Stolle. Sein Kollege Sebastian Scharmer drückte es während seines Plädoyers am Mittwoch noch drastischer aus: "Die Sache stinkt, das kann jeder riechen. Auch wenn man nicht genau weiß, woher es kommt: Der Gestank bleibt."