Arabischer Frauenprotest
8. Februar 2012Im Jahr eins nach Beginn der Revolutionen haben in der arabischen Politik wie eh und je die Männer das Sagen. So sieht es jedenfalls aus, wenn man die Zusammensetzung der neuen tunesischen Regierung anschaut oder das frisch gewählte ägyptische Parlament. Gerade einmal zwei Prozent der ägyptischen Volksvertreter sind Frauen - obwohl Ägypten bereits 1981 die UN-Antidiskrimierungskonvention CEDAW ratifizierte und obwohl das Land sich im Rahmen der Millenniumsziele verpflichtet hat, den Frauenanteil in politischen Gremien zu erhöhen.
Angesichts dieser Entwicklung vergisst man beinahe, dass am Anfang der Revolution in Ägypten eine Frau stand: Es war die junge Bloggerin Asma Mahfouz, die Anfang 2011 über Facebook dazu aufrief, den 25. Januar von einem Polizeifeiertag zu einem Tag des Protests gegen die Diktatur umzuwandeln.
Historischer Frauenprotest
Arabische Frauen waren in der jüngeren Geschichte immer mit auf der Straße, wenn es um nationale Belange ging. In Tunesien demonstrierten Frauenorganisationen in den 1940er Jahren gegen die französische Kolonialmacht. In Ägypten warf Hoda Shaarawi bereits im Jahr 1923 in Kairo öffentlichkeitswirksam ihren Schleier ab. Shaarawi kämpfte damals nicht nur für Frauenemanzipation, sondern sie demonstrierte als gute Patriotin auch gegen die britische Besetzung des Nillandes.
Aus arabischer Sicht war die öffentliche Präsenz von Frauen bei den arabischen Aufständen im vergangenen Jahr somit nichts Neues. Und auch für das starke Engagement arabischer Mädchen und Frauen im Internet gibt es eine naheliegende Erklärung. Das herrschende Wertesystem teilt die gesellschaftlichen Räume für Mann und Frau in öffentliche und private auf. "Anständige“ Mädchen verbringen ihre Freizeit nicht draußen, sondern zu Hause bei der Familie. Twitter, Blogs & Co. bieten die Chance, trotz solcher Einschränkungen mit der Außenwelt zu kommunizieren, und immer mehr gebildete junge Frauen in arabischen Ländern nutzen diese Möglichkeit. Auch das ist bekannt.
Neue Frauenpower
Was hingegen überraschte, waren die sichtbare Entschlossenheit vieler Frauen und die Effizienz, mit der sie den Aufstand organisierten – nicht nur per Facebook und Twitter, sondern auch ganz persönlich von Tür zu Tür. In Kairo und Tunis stellten sich Frauen mit der Handtasche unterm Arm auf die Straße und riefen Slogans gegen das Regime, so lange bis die Menschen aus ihren Häusern kamen und mitdemonstrierten. Frauen halfen nicht nur im Hintergrund bei der Logistik, sondern sie marschierten ganz vorn mit und sie feuerten die Menge an. Aktionskünstlerinnen organisierten Happenings, Musikerinnen wie Nawel Ben Kraiem oder Emel Mathlouthi aus Tunesien traten öffentlich mit Songs auf, die zu Hymnen der Revolution wurden.
Frappierend war auch der unbefangene und respektvolle Umgang der revolutionären Frauen und Männer miteinander. Ob auf dem Tahrirplatz in Kairo oder in der Kasba von Tunis – die üblichen Verbote und Tabus der arabischen Schamkultur spielten keine Rolle, als es darum ging, gemeinsam Transparente zu malen und Verletzte zu versorgen.
Rechtsansprüche statt Scham
Ein weiterer Überraschungsmoment war die Standhaftigkeit, mit die Frauen sich gegen sexualisierte Gewalt zur Wehr setzten, einzeln und kollektiv. Sowohl in Tunesien als auch in Ägypten griffen "Sicherheitskräfte" demonstrierenden Frauen zwischen die Beine und an die Brüste, um sie zu demütigen und sie zur Umkehr zu zwingen. In Ägypten mussten verhaftete Demonstrantinnen bei der Polizei darüber hinaus sogenannte "Jungfräulichkeitstests" über sich ergehen lassen - gynäkologische Zwangsuntersuchungen, die teilweise in Anwesenheit von Polizistengruppen durchgeführt wurden und die sich für die Betroffenen wie eine Vergewaltigung anfühlten. Viele Opfer trauten sich nicht, dagegen vorzugehen, aus Scham und aus Angst vor ihren Familien. Doch eines der Opfer ging vor Gericht, und sie gewann: Die 25 Jahre alte Samira Ibrahim erreichte im Dezember 2011, dass die gynäkologischen Zwangsuntersuchungen ausgesetzt wurden. Danach war der Bann gebrochen. Tausende Frauen marschierten protestierend durch Kairo und skandierten an die Adresse des Militärrates: "Schluss, wir Frauen sind die Rote Linie!"
Das Selbstbewusstsein der jungen arabischen Frauen ist ein Indiz für den tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel, der sich in den Staaten der MENA-Region (Middle East and North Africa) vollzieht. Sichtbar ist dieser Wandel vor allem beim Thema Bildung. Auch wenn die arabische Welt hier im weltweiten Vergleich zur Zeit das Schlusslicht bildet, auch wenn in Ländern wie Marokko und Ägypten noch immer rund die Hälfte aller Frauen nicht lesen und schreiben können: Die Zahl der gebildeten arabischen Frauen hat sich binnen zwei Generationen vervielfacht. Nie zuvor hatten in der MENA-Region so viele Mädchen und Frauen Zugang zu formaler Bildung, nie gab es so viele Akademikerinnen wie heute. Dieser Wandel schlägt sich besonders in den Medien nieder. Die Anchorwoman von Al Jazeera Khadija Benganna oder die Palästina-Reporterin Shireen Abu Aqleh sind Vorbilder für junge arabische Frauen.
Tiefgreifender Wandel
Auch die Familienstrukturen wandeln sich. In den Maghrebstaaten hat sich die Zahl der Kinder pro Frau in zwei Jahrzehnten halbiert. Im Nahen Osten geht es langsamer, aber auch dort sinken die Geburtenraten. In vielen arabischen Großstädten ist die Kleinfamilie mit zwei Kindern mittlerweile die Norm.
Durch den sozialen Wandel haben sich alte Ordnungsmuster der arabisch-islamischen Gesellschaftsordnung verändert. Die traditionellen Zuordnungen "weiblich-privat" und "männlich-öffentlich" funktionieren nicht mehr unhinterfragt. Frauen fordern ihren Anteil am öffentlichen Raum.
Doch dabei stoßen sie auf viele Hindernisse: Zum einen sind patriarchale, frauenfeindliche Einstellungen in den arabischen Gesellschaften immer noch stark – eine Tendenz, die durch den Aufstieg des politischen Islams und durch die von den arabischen Golfstaaten finanzierten konservativen islamischen Missionsbewegungen noch verstärkt wurde. Die Verfechter dieser Ideologien predigen einerseits die moralische Überlegenheit des Islams und andererseits die unbedingte Gehorsamspflicht der Frauen, das Recht der Männer auf einseitige Verstoßung und auf vier Ehefrauen gleichzeitig sowie den Ausschluss der Frauen von vielen öffentlichen Ämtern, weil sie angeblich "zu emotional" seien.
Reform der Gesetze
Ein weiteres Problem sind die in fast allen arabischen Ländern geltenden frauenfeindlichen Gesetze – vor allem das Personenstandsrecht, das so elementare Dinge wie Heirat, Scheidung und Erbe regelt. In den meisten arabischen Ländern basieren die Personenstandsgesetze auf extrem konservativen Auslegungen des islamischen Rechts, die Frauen stark benachteiligen. Aber auch das Strafrecht ist in den meisten arabischen Ländern reformbedürftig. So ist außer in Tunesien die Abtreibung fast überall streng verboten – was zur Folge hat, dass Jahr für Jahr zahllose arabische Frauen durch illegale Abtreibungen verletzt werden oder sterben.
Tunesien und Marokko haben gezeigt, dass im Rahmen des islamischen Rechts weitreichende Reformen zugunsten von Frauen möglich sind. Dennoch haben weiterhin viele Frauen große Probleme. Konservative Richter weigern sich oft, die Gesetze anzuwenden. Und viele Frauen haben gar keine Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen: weil ihnen das Know-How fehlt. Oder das Geld. Oder weil sie keine Papiere besitzen. Allein in Kairo besitzen Hunderttausende von Frauen keine Geburtsurkunde und folglich auch keinen Personalausweis.
Die Revolution hat erst begonnen
Das ägyptische Regime und die neuen Herren im ägyptischen Parlament haben den ersten Jahrestag des Umsturzes mit Pomp gefeiert. Doch die wirkliche Revolution hat gerade erst begonnen. Und sie hat ein weibliches Gesicht. In Ägypten und Tunesien gehen Frauen weiterhin auf die Straße, um für den Rechtsstaat und für die Demokratie zu protestieren.
Die arabischen Frauen sind selbstbewusster und stärker, als viele in Europa denken. Die Weltanschauungen und die politischen Ziele sind unterschiedlich: Die einen wollen einen säkularen Staat, die anderen wünschen sich eine religiös fundierte Gesellschaftsordnung. Doch eines haben alle arabischen Frauen gemeinsam: Sie wollen einen funktionierenden Rechtsstaat, ohne Korruption und Chaos. Wenn es daran geht, die Entwicklungszusammenarbeit mit den neuen Partnern in der Mena-Region zu gestalten, wird die Kombination von Genderpolitik und Rechtsstaatlichkeit ein wichtiger Schlüssel sein.
Autorin: Martina Sabra
Redaktion: Ulrike Mast-Kirschning