Wall Street 2016: Krisen und Rekorde
29. Dezember 2016Alan Valdes ist Händler an der New Yorker Börse und Direktor des Handelsparketts. Während auf den Anzeigetafeln die Kurse grün aufleuchten, erinnert er sich an die vielen Tage im Minus. "2016 war ein historisches Jahr für die Wall Street", sagt er. Gleich an den ersten beiden Handelstagen stürzte der breiter gefasste Index S&P 500 um sechs Prozent ab. Bis zum 11. Februar sollte er dann noch deutlicher verlieren. Der Ölpreis kollabierte bis zu diesem Zeitpunkt und erreichte ein Zehn-Jahres-Tief von 25 Dollar.
"So schlecht sind wir seit 30 Jahren nicht mehr ins neue Jahr gestartet!", sagt Valdes heute. Wie viele seiner Kollegen befürchtete er zunächst, der Rest des Jahres würde genauso wie die ersten beiden Monate ausfallen - verlustreich. Doch von Verlusten ist keine Spur, wenn er sich dieser Tage zu den blinkenden Anzeigetafeln umdreht und dem Dow beim Klettern zusieht. Wie konnte das geschehen? Wie sind die Aktien trotz dieses Starts, trotz der Terroranschläge, des Brexit-Votums und schließlich des überraschenden Ausgang der US-Wahlen aufs Allzeithoch gestiegen?
Alle diese Schocks hatten etwas gemeinsam: Auf Panik folgte Euphorie. "Die Kursverluste durch die Verkaufswellen wurden um ein Vielfaches wieder gut gemacht, als die Anleger nach dem jeweiligen Ereignis wieder einstiegen", sagt der New Yorker Börsenhändler Peter Tuchman. Der Kaufrausch fiel nicht nur überraschend intensiv aus, sondern erfasste die Märkte auch besonders schnell, sagt Sam Stovall, Analyst bei CFRA Research in New York. Im Durchschnitt fielen Märkte nach einem Schock um 3,5 Prozent und machten die Verluste dann nach durchschnittlich 18 Kalendertagen wieder gut, erklärt Stovall. Nach dem Brexit dauerte es jedoch lediglich 15 Tage, bis alle Verluste wieder ausgeglichen waren. Investoren hätten verkauft und dann erst die wichtigen Fragen gestellt, wie: Wird dieses Ereignis Amerika wirklich in eine Rezession stürzen? "Und als sie sahen, nein, da sind sie - zack - wieder zurück in den Markt, meint Stovall.
Investoren handeln oft irrational
Wieso haben die Aktienkäufer sich vorher nicht mit Konsequenzen auseinandergesetzt? "Haben sie", sagt Stovall. Nur nicht rational. "Zu viele Investoren verhalten sich oft wie hyperaktive Schulkinder, die Reise nach Jerusalem spielen." Sprich: Keiner will der letzte sein, der den Markt verlässt. Im Eifer des Gefechts ziehen sie ihr Geld panisch aus dem Markt, weil sie dreimal eine ähnliche Artikel-Überschrift gelesen haben. "Das, was die Medien schreiben, wird schnell zur Realität für Anleger", sagt Börsenhändler Peter Costa.
Besonders deutlich wurde das im Wahlkampf zwischen Hillary Clinton und Donald Trump. Analysten und Medien sagten voraus, dass ein Wahlsieg Trumps großen Schaden an den Märkten anrichten würde. Und weil die Anleger das glaubten, erfüllten sie sich diese Prophezeiung selbst in der Wahlnacht. Die Futures fielen um 900 Punkte. Erst als klar wurde, dass Kongress und Senat republikanisch sein würden, stiegen die Kurse in der Hoffnung auf eine handlungsfähige Regierung.
Lieber ein Ende mit Schrecken…
Alan Valdes sieht die rasche Rückkehr der Anleger an den Markt noch in etwas anderem begründet: "Börsianer hassen Unsicherheit." Sowohl vor dem Brexit-Votum als auch vor den US-Wahlen herrschte Unsicherheit über den Ausgang der Entscheidung. Sobald die Entscheidung dann getroffen war, erholten sich die Anleger - als würden sie sich mit einer Situation abfinden, selbst wenn es in beiden Fällen das jeweilige Horror-Szenario wurde. "Anpassungsfähigkeit" nennt Stovall das. "Solange ich das Szenario kenne, kann ich entsprechend investieren", sagt Peter Costa.
Außerdem ist das Geld, das Anleger aus dem Aktienmarkt ziehen, ja nicht weg. Meist parken sie es, nachdem sie es aus den Aktien herausgenommen haben. Stabilisiert sich der Markt, wird alles wieder investiert. "Wenn Millionen von Anlegern rund um den Globus das gleiche denken, dann macht das natürlich eine ordentliche Marktbewegung aus", sagt Stovall.
Wenn Anleger Schocks so gut wegstecken, steht der Rally an der Wall Street dann überhaupt ein Ende bevor? Dass die ölfördernden Staaten sich nun auf ein Drosseln der Fördermenge geeinigt haben, zieht den Ölpreis ordentlich nach oben, das wiederum belebt viele andere Sektoren. Eine Gefahr sehen Analysten aber im anziehenden Dollar - das könnte vor allem Unternehmen in der Exportbranche empfindlich treffen. Doch gleichzeitig hoffen viele auf eine unternehmerfreundliche Wirtschaftspolitik durch Donald Trump.
Erwartungen für 2017
Die Gefahr liegt im Bullenmarkt selbst, sagt Stovall hingegen, also in einem Markt, in dem über einen langen Zeitraum die Preise steigen. Normalerweise dauern Bullenmärkte vier, vielleicht fünf Jahre an. Der aktuelle Phase steigender Kurse ist aber bereits die zweitlängste seit dem 2. Weltkrieg. "Bullenmärkte sind wie Menschen", sagt Sam Stovall. Je älter sie seien, desto zerbrechlicher und instabil würden sie. Stovall erwartet deshalb eine Abkühlung. Auch Alan Valdes erwartet ein volatiles Handelsjahr. Doch beide sind zuversichtlich - selbst wenn die Kurse wieder um einige Prozent zurückgehen würden. "Der Markt reguliert sich selbst", sagt Händler Peter Tuchman. Trotzdem hat er sich die "Dow-Jones-20.000-Marke-Kappe" schon bestellt - spätestens am 1. Januar, glaubt er, sei es so weit. Historisch haben zumindest Analysten übrigens meist falsch gelegen mit ihren Vorhersagen - wofür 2016 der beste Beweis ist.