Gewinnt Wahrheit oder Lüge die Europawahl?
17. Mai 2019Der EU scheint erst spät klar geworden zu sein, dass auch die Europawahl Ziel von russischer Manipulation werden könnte - ebenso wie Moskau sich im Jahr 2016 in die Wahlen in den USA eingemischt haben soll. Erst vor einem Jahr erklärte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, dass es an der Zeit wäre, "unsere Wahlregeln an die Bedingungen des digitalen Zeitalters anzupassen, um die europäische Demokratie zu schützen".
Zwei weitere Monate später, verabschiedete der Europäische Rat einen "Aktionsplan", um das Bewusstsein, die Kommunikation und die Beobachtung rund um Desinformations-Kampagnen zu erhöhen und ein grenzüberschreitendes Alarmsystem einzuführen.
Internetriesen machen mit
Facebook, Google und Twitter beteiligen sich an den Maßnahmen des Aktionsplans. Sie haben zugesagt, Fake-Accounts schneller zu löschen und Posts besser auf falsche Informationen zu überprüfen. Voraus ging die Drohung der EU, die Internetkonzerne dazu zu zwingen, sollten sie nicht freiwillig mitmachen.
Für Lutz Güllner, Leiter der strategischen Kommunikation beim Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD), hat die EU keinen Grund sich wegen des Zeitplans ihrer Initiative "zu verstecken oder zu schämen". "Es ist eine gemeinsame Entscheidung mit den Mitgliedsstaaten darüber, wie viel wir investieren wollen", sagte er der DW. "Wir müssen gemeinsam die verschiedenen Maßnahmen zusammen führen. Das ist der einzige Weg, um voran zu kommen."
Wie realistisch der Zeitplan der EU ist, bleibt ein Streitthema. Jakub Kalensky, heute Mitglied des US-Think-Tanks Atlantic Council, war zuvor drei Jahre lang für die Arbeitsgruppe "East StratCom" im Einsatz. Sie gilt als Europas wichtigste Einheit, um russische Einflussnahme einzudämmen. Kalensky meint, die EU solle sich mehr Zeit nehmen. "Zu hoffen, das Problem in den letzten zwei Monaten vor der Wahl zu lösen, während die Russen fünf Jahre daran gearbeitet haben? Das ist sehr naiv."
Aber es geht nicht nur um den Zeitplan, sondern auch um die Finanzierung. Der Europäische Rat schätzt, dass die großen Troll-Fabriken in St. Petersburg mehr als eine Million US-Dollar pro Monat für ihre Desinformations-Kampagnen ausgeben. "East StratCom", gegründet im Jahr 2015, ist nur langsam gewachsen, hat jetzt 16 Mitarbeiter und ein Budget von fünf Millionen Euro - pro Jahr.
Große dicke rote Hinweise
Nicht jeder verlässt sich auf die bürokratischen Mittel der EU, um etwas gegen die Trolle zu tun. Auf dem Land in der belgischen Region Flandern sitzt ein Einzelkämpfer gegen die russische Troll-Fabrik im Keller seines Familienhauses. Jeden Morgen, während er seinen Kaffee trinkt, überprüft Maarten Schenk die Trendolizer-Software, die er selbst entwickelt hat. Damit spürt er Artikel auf, die besonders viele Reaktionen erhalten oder besonders oft geklickt oder geteilt wurden.
"Und wenn es mir seltsam vorkommt...", erklärt er, während er durch die Artikel scrollt, "...dann werfe ich einen zweiten Blick darauf." Er beobachte vor allem Geschichten, auf die Menschen wütend reagieren. Oder Geschichten, die bestimmte Vorurteile gegen Gruppen oder einzelne Menschen bekräftigen. Schenk arbeitet zusammen mit einem Kollegen in den USA. Gemeinsam stellen sie die Fehlinformationen auf ihre Seite LeadStories.com. Große dicke rote Hinweise schreien den Leser nahezu an: "Falschmeldung" oder "Falsch".
Schenks Arbeit geht aber noch weiter: Für jede Geschichte, die er als falsch entlarvt, sendet er einen Faktencheck-Bericht an Facebook. Dort werden die Artikel dann in den Algorithmen schlechter behandelt und werden dadurch nicht mehr so oft geteilt. Außerdem kennzeichnet Facebook sie mit einem Warnhinweis.
"Wettrüsten" gegen Trolle
Schenk konzentriert sich hauptsächlich darauf, Falschmeldungen für ein amerikanisches Publikum aufzudecken. Nebenbei arbeitet er aber auch mit "FactCheckEU" zusammen. Der Zusammenschluss aus fast 20 Nachrichtenmedien versucht ebenfalls im Vorfeld der Europawahl gegen Fake News vorzugehen.
Schenk bezeichnet seine Arbeit als stetiges "Wettrüsten". "Wir werden nie alles finden", gibt er zu. "Aber das ist keine Ausrede dafür, es nicht wenigstens zu versuchen." Vor allem vor Wahlen sei das wichtig. "In manchen Fällen können wenige hundert Stimmen in einem Bezirk einen Unterschied ausmachen", sagt Schenk. "Wenn sich ein Sitz verändert, können Koalitionen plötzlich möglich sein, oder eben nicht. Also hat das auf jeden Fall einen Auswirkung."
In einer telefonischen Pressekonferenz mit Journalisten begrüßte Nathanial Gleicher, Leiter der Cybersecurity-Abteilung bei Facebook, diese Art von Zusammenarbeit. "Niemand kann es ganz alleine schaffen", sagt er. Der Internetkonzern hat aber weitere Maßnahmen eingeführt, um die Transparenz zu verbessern: Alle politischen Werbeanzeigen müssen einen Zulassungsprozess durchlaufen. Dazu zählt auch, dass klar ersichtlich sein muss, wer dafür gezahlt hat.
Frustration im Wahlkampf
Doch die neuen Maßnahmen haben auch Nachteile. Während einige Fake-Accounts Millionen Menschen erreichen, ist es für manche Kandidaten fürs Europaparlament fast unmöglich, ihre Botschaften zu verbreiten.
Die Finnin Aura Salla, eine frühere Beraterin der EU-Kommission, frustriert das im Wahlkampf. "Man kann keine Wahlwerbung schalten, wenn man ein anderes Land in seinem Profil stehen hat", erklärt sie. "In meinem steht Belgien, daher konnte ich in Finnland nichts tun." Sie sagt auch, dass es ziemlich lange dauere, bis eine Wahlwerbung von Facebook freigeschaltet werde, oder eben nicht. Der einzige Weg, Beschwerden loszuwerden oder Fragen zu stellen, sei online. Zurück kämen nur automatische Antworten. "Am Ende weiß man nicht, warum eine Wahlwerbung nicht akzeptiert wurde."
Gesunde Skepsis
Juliane von Reppert-Bismarck hat einen anderen Weg gewählt, um die Macht der Propaganda zu bekämpfen. Desinformations-Kampagnen und eine fehlende kritische Auseinandersetzung junger Social Media-Nutzer bereiteten ihr Sorgen. Sie beendete daher ihre Karriere als Journalistin und gründete "Lie Detectors". Von Reppert-Bismarck und ihr Team gehen in Schulen, um die Wähler von morgen darauf zu trainieren, nicht manipuliert zu werden. Bisher sind sie in Österreich, Belgien und Deutschland unterwegs.
Sie gibt den Jugendlichen eine Botschaft mit auf den Weg, die in jedem Alter hilfreich sein könnte: "Früher sagte man: 'Nimm keine Süßigkeiten von Fremden'. Wir sagen lieber: 'Glaube keine Tweets von Fremden'."