Histotrikerstreit
20. Juli 2011Nie zuvor hatte ein Zeitungsartikel für solche Furore unter Deutschlands Intellektuellen gesorgt. In einem Aufsatz in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) stellte der damals renommierte Zeithistoriker Ernst Nolte die Behauptung auf, der Nationalsozialismus sei so etwas wie eine Nachahmung des Bolschewismus in der Sowjetunion gewesen. Mehr noch: Die Nationalsozialisten hätten Angst vor einem Übergriff der Bolschewisten gehabt und hätten sich, um nicht selbst Opfer zu werden, zum Vernichtungsfeldzug gegen den größten ideologischen Feind entschlossen. Damit sei das nationalsozialistische Deutschland eher Opfer als Täter gewesen.
Relativierung der Verbrechen
Auch der Holocaust wurde von Ernst Nolte neu definiert. Die Vernichtung der Juden sei zweifellos der schlimmste Traditionsbruch der europäischen Geschichte gewesen. Aber auch hierfür hätte es ein Vorbild in der bolschewistischen Sowjetunion gegeben: "die Kulakenverfolgung". Stalin hatte die Vernichtung jener wohlhabenden Bauern angeordnet, weil sie sich gegen die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft zur Wehr gesetzt hatten. Der Vernichtung dieser "Klasse" habe Hitler mit der Ermordung der Juden die Vernichtung einer "Rasse" folgen lassen. In den Worten von Ernst Nolte liest sich das so: "Auschwitz resultiert nicht in erster Linie aus dem überlieferten Antisemitismus und war im Kern nicht ein bloßer 'Völkermord', sondern es handelte sich vor allem um die aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution."
Neben der Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen durch den Vergleich mit den Massenmorden, die in der Sowjetunion auf Befehl Stalins verübt wurden, stellte Nolte die These vom "kausalen Nexus" zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus auf. Diese "wirkende Ursache" habe dazu geführt, dass Hitler vom "Vernichtungswillen" des ärgsten Feindes überzeugt war - schon lange vor dem Beginn der Massenvernichtung der Juden in den Gaskammern der Vernichtungslager. Zwar sei die Vernichtung der Juden "entsetzlicher" als die Vernichtung der "Kulaken" gewesen, dennoch ändere dies nichts an "der Tatsache, dass die sogenannte Judenvernichtung des Dritten Reiches eine Reaktion oder verzerrte Kopie und nicht ein erster Akt oder das Original war."
Geistig-moralische Wende?
Der Aufsatz Ernst Noltes wurde in einer Zeit veröffentlicht, in der über die so genannte "geistig-moralische Wende" von Bundeskanzler Helmut Kohl debattiert wurde. Kohl hatte mit diesem Wende-Ruf im März 1983 die Bundestagswahl gewonnen. Die Deutschen sollten ein neues Selbstbewusstsein haben und fast 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum "aufrechten Gang" zurückkehren. Kohls Kritiker argwöhnten, er wolle damit auch die jüngste deutsche Geschichte umdefinieren.
Bei seinem ersten Israel-Besuch im Januar 1984 lieferte Helmut Kohl ihnen dafür einen Beleg, als er vor der Knesset in Jerusalem von der "Gnade der späten Geburt" sprach. Kohl meinte damit, er sei ein Vertreter jener Generation, die zu jung sei, um selbst "Täter" gewesen sein zu können. Seine Kritiker warfen ihm vor, sich aus der "geschichtlichen Verantwortung" für den Holocaust stehlen zu wollen, der sich jeder Deutsche - egal welchen Alters - zu stellen habe.
Noch schlimmer fielen die Reaktionen auf den Besuch des Soldatenfriedhofs von Bitburg am 5. Mai 1985 aus. Gemeinsam mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan besuchte Helmut Kohl nicht nur die Gräber gefallener Soldaten der regulären deutschen Wehrmacht, sondern auch die der ebenfalls auf dem Friedhof beerdigten Angehörigen der Waffen-SS, einer Elite-Truppe der Nationalsozialisten. Das amerikanische Repräsentantenhaus hatte Reagan erfolglos gebeten, auf den Besuch des Bitburger Soldatenfriedhofs zu verzichten, weil er damit das Ansehen der USA beschädigen könnte.
Hitzige Debatte
Niederlage oder Befreiung – die Ansichten über das Ende des Krieges waren durchaus verschieden in Deutschland. Zum 40. Jahrestag 1985 hielt der damalige Bundespräsident Richard von Weizäcker eine Rede, die eine der wichtigsten der deutschen Nachkriegsgeschichte werden sollte. Er sprach davon, dass das Kriegsende am 8. Mai 1945 ein "Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" gewesen sei. Ein präsidiales Machtwort, das die Diskussion um die deutsche Vergangenheit aber nicht beendete – wie der Historikerstreit ein Jahr später beweist, den Ernst Nolte durch seinen Aufsatz auslöste. Das Thema behielt seine Brisanz für die deutsche Öffentlichkeit.
Der Aufsatz von Ernst Nolte provozierte eine gesellschaftliche Diskussion, die viele Monate dauerte und mehr als 1000 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel nach sich zog. Insbesondere der Frankfurter Philosoph Jürgen Habermas stemmte sich dem, wie er vermutete, Versuch der Geschichtsrevision durch Nolte und einige andere Historiker entgegen. In einer teilweise sehr emotional und polemisch geführten Debatte warf er ihnen vor, die deutsche Geschichte umdeuten und verharmlosen zu wollen.
Am Ende der Diskussionen aber stand nicht die von Nolte gewünschte Revision des Geschichtsbildes über die deutsche Vergangenheit, sondern eine Selbstvergewisserung eines Teils der deutschen Öffentlichkeit. Durch die Kontroverse ist klar geworden, dass die Deutschen nicht in einer Schuld- sondern in einer Verantwortungsgemeinschaft leben: Von deutschem Boden darf weder ein Krieg ausgehen noch so etwas wie ein Völkermord inszeniert werden.
Autor: Matthias von Hellfeld
Redaktion: Arne Lichtenberg