Syrien: Welche Verbrechen Assads Regime vorgeworfen werden
9. Mai 2023Nach mehr als einem Jahrzehnt der Suspendierung soll Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen werden. Das hatten am vergangenen Wochenende die Außenminister der Mitgliedstaaten in Kairo beschlossen. Damit sprechen sie sich für die Rückkehr eines Staates aus, der sich laut zahlreichen internationalen Quellen und Berichten während des 2011 ausgebrochenen Bürgerkriegs immer wieder schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht hat. Ein Überblick.
Mutmaßlicher Einsatz von Giftgas
Seit Jahren wird das syrische Regime des Einsatzes von Giftgas bezichtigt. Einer der bekanntesten war der Angriff vom August 2013 auf die Region Ghuta nordöstlich von Damaskus. Dabei wurden unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen 280 und 1800 Menschen getötet. Zweifelsfrei bewiesen ist die Verantwortung des Assad-Regimes allerdings nicht. Das Weiße Haus erklärte damals, die Angriffe gingen mit „ziemlicher Sicherheit" auf das Regime zurück.
Im Jahr 2018 berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, für die "Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons" (Organisation für das Verbot chemischer Waffen, OPCW) arbeitende Labore hätten nach dem Ghuta-Angriff von einer UN-Mission entnommene Proben mit Chemikalien verglichen, die 2014 seitens Damaskus zur Vernichtung übergeben wurden. Demnach wurden in den Proben sogenannte Marker gefunden, die die bei diesem Angriff verwendeten Stoffe mit dem Chemiewaffenarsenal der syrischen Regierung in Verbindung brächten, so Reuters.
Auch andere Giftgaseinsätze werden von den meisten internationalen Experten dem Assad-Regime zugeschrieben, während das syrische Regime und sein Verbündeter Russland dies regelmäßig dementieren. Im Februar 2023 verwiesen die UN auf eine Untersuchung der OPCW, der zufolge es "triftige Gründe" für die Annahme gebe, dass die syrische Regierung für einen Chemiewaffenangriff aus dem Jahr 2018 auf Duma verantwortlich sei. Bei diesem Angriff wurden 43 Zivilisten getötet.
Nach dem Giftgas-Angriff von 2013 war das Regime der Chemiewaffen-Konvention beigetreten. Diese verbietet Entwicklung, Herstellung, Besitz, Weitergabe und Einsatz chemischer Waffen. Doch im Herbst 2020 übergaben die in New York ansässige "Open Society Justice Initiative" und das 2014 gegründete "Syrian Archive" den UN einen umfassenden Untersuchungsbericht. Diesem zufolge hielt das Regime auch nach dem Beitritt weiterhin Ausrüstung und Chemikalien zur Produktion von Kampfstoffen bereit. "Unsere Nachforschungen zeigen, dass Syrien weiterhin ein robustes Chemiewaffen-Programm unterhält", sagte Steve Kostas, der Chefjurist der "Open Society Justice Initiative."
Chemiewaffen und Fassbomben
Das Assad-Regime wird auch für den Einsatz von Chemiewaffen und Fassbomben verantwortlich gemacht. Einem Bericht des unabhängigen "Syrian Network for Human Rights" (SNHR) zufolge - das Netzwerk berichtet auch über Verbrechen der Assad-Gegner und wird unter anderem vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zitiert - führte das Regime im Zeitraum vom Dezember 2012 bis zum November 2022 insgesamt 217 Angriffe mit Chemiewaffen durch. Fünf weitere Angriffe gehen auf das Konto der gegen Assad kämpfenden Dschihadistenorganisation Islamischer Staat (IS). Insgesamt starben bei diesen Angriffen dem SNHR zufolge mindestens 1500 Menschen, unter ihnen 205 Kinder und 260 Frauen. 12.000 Menschen wurde demnach durch die Angriffe verletzt.
Auch Fassbomben soll das Assad-Regime massiv eingesetzt haben, auch wenn es dies immer wieder bestreitet. Einem Bericht des SNHR vom April 2021 zufolge warf das Regime in den ersten neun Jahren des Krieges fast 82.000 Bomben dieser Art ab, die in ihrer weit streuenden, dabei wenig präzisen Zerstörungswirkung als besonders grausam und international als weitgehend geächtet gelten. Diese töteten laut SNHR in Syrien mehr als 11.000 Zivilisten, unter ihnen mehr als 1800 Kinder. Die Waffen sind aus Sicht des Regimes günstig: Sie sind einfach und vergleichsweise preiswert herzustellen.
Willkürliche Inhaftierungen und "Verschwindenlassen"
Seit Jahren wird das Assad-Regime von internationalen und arabischen Menschenrechtlern beschuldigt, für das Verschwinden einer großen Zahl von Menschen verantwortlich zu sein. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International spricht in ihrem Jahresbericht 2022 von "Zehntausende(n) Menschen", die im Verlauf des Krieges verschwunden seien. Das SNHR nennt in einem Bericht vom August 2022 die Zahl von 111.000 Vermissten. Für die meisten willkürlichen Verhaftungen und Fälle von "Verschwindenlassen" macht das Netzwerk das syrische Regime verantwortlich.
"Nach einem Jahrzehnt des Konflikts sind in Syrien immer noch Zehntausende von Zivilisten willkürlich inhaftiert oder verschwunden" heißt es auch in einem Bericht der UN-Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien vom März 2021. Tausende weitere seien Opfer von Folter, sexueller Gewalt oder Tod in der Haft geworden.
Zahlreiche Folter-Vorwürfe
Eine Veröffentlichung des SNHR vom Januar 2022 dokumentiert allein mehr als 14.600 Todesfälle durch Folter. In ihr enthalten sind auch Opfer, die durch militante Assad-Gegner, etwa den IS, ermordet wurden. Die meisten Opfer gingen aber auf das Assad-Regime zurück, so das SNHR.
Zu den häufigsten Foltermethoden zählen demnach Vergewaltigung und andere Formen der sexuellen Gewalt, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung sowie Isolationshaft.
Einen Einblick in das Foltersystem des Regimes ergab der 2020 von der deutschen Bundesanwaltschaft in Koblenz eröffnete Prozess gegen Verantwortliche des syrischen Foltersystems. Im Januar 2022 verurteilte das Oberlandesgericht Koblenz den Angeklagten Anwar Raslan zu einer lebenslangen Haftstrafe. Das Gericht befand ihn für schuldig, unter anderem für Folter, 27 Morde, gefährliche Körperverletzung und sexualisierte Gewalt mitverantwortlich zu sein. Die zugrunde liegende Anklageschrift hatte von einem "ausgedehnten und systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung" gesprochen.
Systematischer Drogenhandel
In den letzten Jahren wird das Assad-Regime zudem zunehmend der Drogenproduktion und des Drogenhandels beschuldigt, nicht zuletzt von anderen arabischen Staaten der Region. Massiv eingestiegen ist das Regime demnach in die Herstellung von Captagon, einem auf dem Wirkstoff Fenetyllin beruhenden Arzneistoff, der eine äußerst stimulierende Wirkung hat. Mögliche Nebenwirkungen sind unter anderem Hirnschäden, Psychosen und Herzinfarkt.
Syrien sei das "weltweite Epizentrum der Captagon-Produktion", heißt es in einem Bericht des "Center for Operational Analysis and Research" (COAR) aus dem Jahr 2021. Während der Captagon-Handel zunächst zu den Finanzierungsquellen der dschihadistischen Anti-Assad-Gruppen gehörte, hätten sich inzwischen das Regime und seine wichtigsten regionalen Verbündeten zu den Hauptprofiteuren des syrischen Drogenhandels entwickelt.
"Mit speziellen Maschinen und Dutzenden von Labors hat das Regime das vom Krieg zerrissene Syrien in eines der weltweit führenden Drogenunternehmen verwandelt" heißt es auch in einer Studie der US-amerikanischen Carnegie-Stiftung. "Dieses verfügt über Häfen, die mit den Schifffahrtskorridoren im Mittelmeer verbunden sind, sowie über Schmuggelrouten auf dem Landweg nach Jordanien, in den Libanon und in den Irak, die alle unter dem Schutz des Sicherheitsapparats des Regimes stehen."
Laut COAR erreichten die Captagon-Exporte aus Syrien im Jahr 2020 einen Marktwert von umgerechnet mindestens 3,15 Milliarden Euro.