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Vitus: Mythos Wunderkind

Kirsten Liese20. Dezember 2006

Mit seinem neuen Film "Vitus" rückt Fredi M. Murer ein hochbegabtes Kind in den Mittelpunkt. Ein Musikgenie, in das die Eltern große Erwartungen stecken und dessen Begabung auch zu Isolation führt.

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Vitus mit seinem Großvater, Quelle: Schwarz-Weiss Filmverleih
Vitus und sein Großvater: Freund und VerbündeterBild: Schwarz-Weiss Filmverleih

Vitus ist ein außergewöhnlicher Junge, der schon als Sechsjähriger pianistische Fähigkeiten entwickelt wie ein kleiner Mozart. Er ist ein so genanntes Wunderkind, wie es auch die Stargeigerin Anne-Sophie Mutter oder der Weltklasse-Pianist und Dirigent Daniel Barenboim einmal waren. Der Schweizer Filmemacher Fredi M. Murer jedoch blickt hinter die glänzende Fassade eines solch Hochbegabten, dem die Musikwelt staunend zu Füßen liegt.

Dabei geht es nicht nur um den Ehrgeiz einer Mutter, die ihr Kind mit mangelndem pädagogischen Einfühlungsvermögen unter Druck setzt, sondern auch um soziale Belastungen: Vitus gerät in die Isolation, weil die Jungen in seiner Umgebung andere Interessen und einen anderen Musikgeschmack haben. Seine Lehrer halten ihn, der auch ein Mathematik-As ist, für arrogant. Und die Schulleiterin will ihn sogar loswerden und fordert Vitus' Eltern auf, ihn von der Schule zu nehmen und in eine Sonderschule zu stecken.

Vitus mit Gleiter, Quelle: Schwarz-Weiss Filmverleih
Vitus mit Gleiter: Traum vom FliegenBild: Schwarz-Weiss Filmverleih

Großvater als Rettungsanker

Nur im Großvater, den Bruno Ganz grandios als liebenswerten, eigenwilligen Querkopf spielt, findet Vitus einen treuen Freund und Verbündeten. In seiner Schreinerei bastelt der Alte, der Zeit seines Lebens vom Fliegen träumt, Fluggeräte aus Holz, spendet Trost mit zauberhaft-poetischen Geschichten, gibt behutsam Anregungen und Denkanstöße.

Vitus sehnt sich nach einem Ort, an dem er jenseits artistischen Schaulaufens das Wahrhaftige der Musik entdecken kann. Ihn ertrotzt sich der clevere Einzelkämpfer mit einem märchenhaften Coup, der ihm ein Doppelleben ermöglicht: Er simuliert einen schweren Unfall, durch den er scheinbar seine besonderen Begabungen verliert. Er verschafft sich und seinem finanziell angeschlagenen Großvater Millionen mittels Börsenspekulationen im Internet, kauft sich ein eigenes Loft und einen Konzertflügel, auf dem er ungestört für sich allein üben kann.

Und so wird der uralte Traum vom Fliegen, das Abheben vom Boden und das Gefühl des Loslassens unweigerlich auch zur Metapher von Freiheit. Zwar steht Vitus am Ende, wenn er sein Doppelleben wieder aufgibt und mit dem Zürcher Kammerorchester Schumanns a-moll-Konzert spielt, doch noch am Anfang einer Weltkarriere – allerdings aus eigenem Antrieb.

Filmerlebnis und musikalischer Hochgenuss

Vitus Eltern, Quelle: Schwarz-Weiss Filmverleih
Vitus' ElternBild: Schwarz-Weiss Filmverleih

Verkörpert wird Vitus vom 12-jährigen rumänischen Klavierwunder Teo Gheorghiu, der auch ein bisschen sich selbst spielt. Er bürgt nicht nur für Authentizität aller Klavierszenen im Film, sondern macht ihn zugleich zu einem besonderen musikalischen Erlebnis. Denn das von ihm interpretierte Schumann a-moll-Konzert ist sein Konzertdebüt mit dem Zürcher Kammerorchester unter Leitung von Howard Griffith.

En passant entlarvt der Film auch eine verkrustete, fragwürdige Musikpädagogik, die auf Karrieredenken ausgerichtet ist und in starren Konventionen verharrt. Er tut dies durch die entwaffnenden, unbefangenen Äußerungen seines Helden. Und er hinterfragt die Konventionen des heutigen Musikbetriebs samt Klassikkrise, leistungsorientierten Wettbewerben und kommerziellen Interessen von Konzertveranstaltern. Das macht "Vitus" auch zu einer Hommage an die Musik selbst, die dann am schönsten und wahrhaftigsten erklingt, wenn sie aus innerer Leidenschaft und Überzeugung heraus erlebt und interpretiert wird.