Vertrieben und verbittert
22. April 2012"Komm mal hier her!" Die junge Frau sitzt auf dem gekachelten Boden eines Berliner Reihenhauses. In der Ecke: ein dünnes Sitzkissen, auf das sie den Mann zu zerren versucht, der am Bild-Rand steht: "Komm mal hier her bitte!"
Ein Ausschnitt aus einer der ersten Szenen des Dokumentarfilms "Schildkrötenwut". Das besondere: Die genervte, junge Frau auf dem Boden ist die Regisseurin des Films, der stehende Mann ihr Vater. Pary El-Qalqili hat einen Film über ihre eigene Geschichte gemacht – oder besser über die ihres Vaters.
Schwarz & Weiß, Gut & Böse
Sie wollte verstehen, aufarbeiten, die Fragen stellen, die sie so lange nicht stellen konnte. El-Qalqili ist in Berlin geboren. Ihr Vater kam als junger Mann nach Deutschland – als palästinensischer Flüchtling. Auf dem ersten Foto, das er seiner Familie schickte, habe er zuversichtlich ausgesehen. Mittlerweile ist er verbittert. Die Welt ist für ihn gemalt in Schwarz und Weiß. Es gibt für ihn nur Gut und Böse. Dass er so denkt, hat eine Geschichte. Er ist frustriert: Von Deutschland, das ihn kalt und zurückweisend empfangen habe, von seiner Arbeitslosigkeit, seiner Ehe.
Als Pary El-Qalqili zwölf Jahre alt ist, geht ihr Vater zurück nach Palästina. Er verlässt seine Familie, um dort ein Haus zu bauen und für die Freiheit Palästinas zu kämpfen.
Doch ihr Vater scheitert. Nach zehn Jahren wird er ausgewiesen. Er kehrt nach Deutschland zurück, seine Frau nimmt ihn bei sich auf, die beiden gehen sich aber aus dem Weg. Der Vater zieht sich in den Keller des Berliner Hauses zurück – wie eine Schildkröte. In Ihrem ersten langen Dokumentarfilm arbeitet El-Qalqili nun all dies auf, reist mit ihrem Vater nach Ägypten, Palästina und Jordanien, versucht mehr über das Leben ihres Vaters und ihre eigene Identität herauszufinden. Ihr Vater wirkt auf der Reise gelöst, fast jung, singt und klatscht mit dem Taxifahrer, scherzt. Doch Pary El-Qalqili muss erkennen, dass ihr Vater auch in seiner Traum-Heimat Palästina ein Fremder geworden ist. Die einzigen Menschen, die ihr Vater dort kannte, haben ihn um Geld betrogen.
Obwohl das zentrale Thema die revolutionäre Vergangenheit des Vaters ist, ist "Schildkrötenwut" dennoch kein politischer Film, sondern ein Film über die fragile Beziehung zwischen Vater und Tochter. Mal lehnt die Tochter schlafend an der Schulter des Vaters, mal streiten sich die beiden um banale Dinge wie eine Taxifahrt vom Flughafen. Die Gespräche auf dem Boden des kargen Berliner Kellerraums zeigen, wie schwierig es dem Vater fällt, seiner Tochter sein Leben zu erklären, seine Sichtweise zu vermitteln.
El-Qalqilis Film ist nur einer von sieben Filmen, die im Rahmen des Festival-Schwerpunkts "arabische Welt" zu sehen sind. Wie jedes Jahr hat das Internationale Frauenfilmfestival, das abwechselnd in Dortmund und Köln stattfindet, einen regionalen Fokus. "Im Moment drängt sich dieser ja fast auf, weil alle das machen – man muss ja fast schon erklären, warum man nicht so einen Schwerpunkt macht.", erklärt eine der Kuratorinnen des diesjährigen Fokus', Irit Neidhardt.
Die arabische Welt steht zwar im Mittelpunkt, nicht aber der arabische Frühling, wie man vielleicht erwartet hätte. Die Festival-Filme wurden allesamt vor den Anfängen der Unruhen fertig gestellt. "Ich würde gar nicht sagen, dass wir den arabischen Frühling nicht thematisiert haben. Ich finde, wie die Medien hier und auch die Sachbücher, die zum Teil herausgekommen sind, mit dem Thema umgehen, ist extrem verkürzt", so Neidhardt. "Wir gehen eher an die Sprosse oder an die Samen, wir gucken auf das, was vorher da war. Bei der Entscheidung, nur Filme zu zeigen, die vor den Umbrüchen entstanden sind, war es mir sehr wichtig, dass das Filme sind, die mit sehr viel mehr Zeit entstanden sind und mit mehr inhaltlicher und konzeptueller Überlegung und ganz anderen Produktionsmöglichkeiten."
Keine Schnellschüsse also – einen Einblick, wie die Unruhen begonnen haben, zeigen die Filme trotzdem: Der Film "Forbidden" beispielsweise: "Amal Ramsis war mit dem Schnitt am 25. Januar 2011, am Tag, als die großen Demonstrationen angefangen haben und mit dem Film hat man quasi ein Dokument dafür, wie unmittelbar davor die Stimmung war."
Bei der Auswahl der Filme war es Neidhardt wichtig, keine Klischees zu bedienen, keine Stereotype zu zeigen, die Deutsche und Europäer im Kopf haben, wenn sie an Frauen in der arabischen Welt denken. Neidhardt wollte Filme in ihrem Programm, "die nicht dafür gemacht sind, dieses Bild zu konterkarieren, die es aber tun, in dem sie auf unser Frauenbild pfeifen." Mit ihrem vielfältigen Programm des Internationalen Frauenfilmfestivals 2012 hat sie dies geschafft.