Versinken Brexit-Gespräche im Chaos?
9. Juni 2017So hatte Europa sich den Ausgang der britischen Unterhauswahl nicht vorgestellt: Die amtierende Premierministerin verspielt die absolute Mehrheit ihrer konservativen Partei, und die linke Labour-Partei holt soweit auf, dass die Mehrheitsverhältnisse auf ein "hung parliament", ein "Parlament in der Schwebe", hinauslaufen. Was das konkret bedeutet, gibt May in einer Stellungnahme bekannt: eine Minderheitsregierung unter Führung der Tories.
Es ist also das Gegenteil von dem eingetreten, was May durch die vorgezogene Wahl erreichen wollte, nämlich dass sie mit einer stabilen Mehrheit im Rücken den Brexit verhandeln kann. Stattdessen muss sie nun für jede Gesetzesänderung - und durch den EU-Austritt wird es davon einige geben - neue Partner im Parlament suchen. Das wird vermutlich nicht einfach.
Spinnen die, die Briten?
Der SPD-Europaabgeordnete Jens Geier bringt es als einer von vielen auf den Punkt: "May ist gescheitert." Für einige mag es satirisch anmuten, was sich dieser Tage in Großbritannien abspielt. So kommentierte der Vize-Präsident des EU-Parlaments Alexander Graf Lambsdorff: "Es erinnert ein wenig an Monty Python: Eine Politikerin, die loszieht, eine starke und stabile Regierung zu bilden - das waren ihre Worte -, von einer großen Mehrheit ausgehend, und am Ende dasteht mit einer Situation, in der sie keine eigene Mehrheit mehr hat."
Anderen ist weniger zu Späßen zumute. So klingt es fast wie eine Drohung, wenn EU-Ratspräsident Donald Tusk schreibt, man wisse, wann die Brexit-Gespräche enden würden. An die neue Londoner Regierung gerichtet warnt er: "Tut euer Bestes, um zu vermeiden, dass es als Konsequenz ausbleibender Verhandlungen keinen Deal gibt."
Viel Zeit bleibt den 27 EU-Staaten und Großbritannien nicht mehr, um ein Abkommen über die Trennung und die Eckpunkte der künftigen Beziehungen zu schließen. Im März 2019 läuft die Frist ab. Verlängert werden kann sie nur, wenn alle Beteiligten zustimmen. Die Uhr tickt.
Unsicherer Zeitplan
Dass es nicht an Brüssel liege, diesen Zeitplan einzuhalten, das stellten nach der Wahlschlappe viele europäische Politiker klar. Ginge es nach ihnen, könnten die Austrittsgespräche wie geplant am 19. Juni starten. "Wir sind bereit, um mit den Brexit-Verhandlungen zu beginnen", sagt der CDU-Europapolitiker David McAllister im Interview mit der Deutschen Welle. Aber: "Sie müssen bald beginnen, da uns die Zeit ausgeht." London müsse sich daher schnell um eine stabile Regierung kümmern, die stabile Entscheidungen fällen kann. Mahnend fügt McAllister hinzu: "Lieber früher als später."
Doch nach der Unterhauswahl muss man sich im Vereinigten Königreich erst einmal sortieren. Zunächst war nicht einmal klar, ob Theresa May als Premierministerin weiterhin die Verhandlungen mit Brüssel führen würde. Deshalb schreibt Michel Barnier auf Twitter: "Die Brexit-Verhandlungen starten, wenn das Vereinigte Königreich soweit ist." Der Franzose verhandelt auf EU-Seite den Austritt der Briten. Die Brüsseler Position sei schließlich klar.
Auch wenn der eine oder andere EU-Politiker die Schadenfreude womöglich nicht unterdrücken kann, wäre den meisten ein eindeutiges Votum der britischen Wähler für Theresa May wohl lieber gewesen. Ihre Annahme: Schwierige Entscheidungen lassen sich besser treffen, wenn beide Seiten ein starkes Mandat haben. Nun mache die britische Premierministerin "ohnehin komplexe Verhandlungen noch schwieriger", meint Guy Verhofstadt, der für das Europäische Parlament an den Brexit-Verhandlungen beteiligt ist.
"Soft" oder "Hard Brexit"?
Mit diesem Wahlausgang wisse man nicht, "ob ein Kompromiss am Ende genügend Zustimmung in der Öffentlichkeit erfährt", erklärt Steven Blockmans, Experte für EU-Außenpolitik am Brüsseler "Centre for European Policy Studies". Das scheint umso schwieriger, als die Botschaft hinter dem britischen Votum wegen der unklaren Mehrheitsverhältnisse gar nicht einfach zu entziffern ist. Klar scheint immerhin: Mays Kurs eines "harten" Brexits wurde abgestraft.
Werden das auch ihre Gegner akzeptieren? Außenminister Boris Johnson und Brexit-Minister David Davis stehen innerhalb der Partei für einen noch resoluteren Kurs gegenüber der EU. Diese Stimmen wollte May mit der vorgezogenen Neuwahl eigentlich zum Schweigen bringen.
Stattdessen geht das Tauziehen weiter - nicht nur von rechts, sondern künftig wohl auch von links. Die schottische und die liberale Partei kündigten bereits an, auf einen "softeren" Brexit zu drängen. Auch Labour hatte im Wahlkampf betont, Großbritannien den Zugang zum europäischen Binnenmarkt erhalten zu wollen. Fraglich ist, ob eine solche Position mit allen Konsequenzen vertreten würde. Denn von Brüsseler Seite ist klar: Wenn die Briten nicht wollen, dass EU-Bürger freizügig ein- und ausreisen können - eine der Freiheiten des gemeinsamen Marktes -, dürfen sie auch nicht von den wirtschaftlichen Vorteilen profitieren.
Für Blockmans sind es solche Forderungen, an denen die Brexit-Verhandlungen scheitern könnten. "Es wird viel schwieriger, wenn die Rosinenpickerei wieder losgeht." Vielmehr müsse die britische Regierung nun auch bei solchen Themen einlenken, bei denen sie bislang nicht kompromissbereit war. Streitpunkte gibt es in der Tat viele. Da wären etwa die Rechte der 3,2 Millionen EU-Bürger in Großbritannien, oder die Schlussrechnung für London, die bis zu 100 Milliarden Euro betragen könnte.
Geeinte EU, gespaltenes Großbritannien
"Es gibt viel zu verhandeln in sehr kurzer Zeit", folgert Blockmans. Deshalb sei es essentiell, dass beide Lager nun geschlossen auftreten. Auf die europäische Seite treffe das zu, meint der EU-Experte. Europaparlamentarier Manfred Weber (CSU) äußert sich auf Twitter ähnlich. "EU ist geeint, Großbritannien ist tief gespalten", schreibt er.
Zuletzt sei es auf dem Kontinent mehreren gemäßigten Parteien gelungen, mit pro-europäischer Politik Wahlen zu gewinnen, sagt Blockmans. "Es ist fast ironisch, dass die vorausgesagten Spillover-Effekte - ein Frexit, Nexit oder der Austritt eines anderen EU-Landes - praktisch umgedreht werden konnten."
Tatsächlich sieht es aktuell so aus, als halte dieser Trend weiter an. Laut Umfragen wird Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auch bei der anstehenden Parlamentswahl die meisten Stimmen erhalten. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel führt vor der Wahl im September wieder sämtliche Umfragen an. Blockmans bricht das Machtverhältnis der Brexit-Verhandlungspartner auf eine einfache Formel herunter: "Während die EU27 immer mehr zusammenhalten, wird das Vereinigte Königreich immer schwächer."