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Verfassungsvertrag tot, EU lebendig

Bernd Riegert30. Mai 2005

Auch wenn der Verfassungsvertrag nicht mehr zu retten ist, so ist doch die EU keineswegs am Ende. Sie wird eine schöpferische Pause einlegen - vielleicht nicht das schlechteste Ergebnis des französischen Referendums.

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Bernd Riegert

Das Nein der Franzosen war absehbar. Seit Wochen war klar, dass der Vertrag für eine europäische Verfassung in Frankreich keine Mehrheit finden würde. Die führenden Politiker Europas steckten ihre Köpfe allerdings in den Sand. Es gab keinen Plan B, also keine Alternative, falls das Nein kommt. Der derzeitige Vorsitzende des Europäischen Rates, der luxemburgische Ministerpräsident Jean Claude Juncker, und EU-Kommissionspräsident Jose Barroso hatten in Brüssel am Abend der Niederlage nur eine laue Erklärung zu bieten. Weiter so! heißt ihre Devise.

Aber weiter wohin? Die Ratifizierung soll weiterlaufen bis zum Herbst 2006. Erst dann wollen die EU-Staats- und Regierungschefs Bilanz ziehen. Und dann?

Selbst wenn alle EU-Staaten außer Frankreich der Verfassung, was unwahrscheinlich ist, zustimmen sollten, wäre es wohl abwegig, die französischen Wähler noch einmal über einen unveränderten Verfassungstext abstimmen zu lassen, nach dem Motto: Wir wählen so lange, bis das Ergebnis passt. Den Text des Vertrages zu verändern ist aber ebensowenig möglich, denn das ganze Paket würde aufgeschnürt. Alle Staaten würden ihre Sonderwünsche anmelden. Ein endloses Verhandlungshickhack wäre die Folge.

Nein, da helfen keine Durchhalteparolen. Dieser Verfassungstext ist tot. Ohne Frankreich kann die Verfassung nicht angenommen werden. Weitere Volksabstimmungen in anderen EU-Staaten, wie in drei Tagen in den Niederlanden, kann man sich eigentlich schenken.

Was nun, Europa? Krise, Katastrophe, Chaos. All das haben die Verfassungbefürworter für den Fall einer Ablehnung an die Wand gemalt. Aber es ist zu bezweifeln, dass es tatsächlich zu einer Katastrophe kommt. Schließlich hat die EU mit dem Vertrag von Nizza einen umständlichen, aber gültigen Rechtsrahmen mit klaren Regeln.

In der vermeintlichen Krise könnte auch eine Chance liegen, mutmaßt der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen, denn die EU-Akteure müßten jetzt beweisen, dass Europa Rückschläge verdauen und trotzdem weiter vorankommen kann. Die Union wird weiter arbeiten und nicht auseinanderfallen. Frankreich wird nicht austreten.

Zunächst ist eine Denkpause über die Geschwindigkeit der Integration und Erweiterungswellen notwendig. Diese Pause wird mehrere Jahre dauern. Erst danach kann man das Projekt Verfassung, also Verschlankung und Demokratisierung der Entscheidungs-Prozesse, wieder anpacken. Denkbar ist, dass Staatengruppen einige
Politikbereiche außerhalb der EU-Verträge weiter vertiefen. Einige Institutionen, wie der gemeinsame Außenminister, könnten auch ohne Verfassung eingeführt werden. Zuviele Elemente aus dem toten Werk dürfen es aber nicht sein, denn das hieße ja, den Willen der französischen Wähler zu mißachten.

Thema wird auf jeden Fall der Beitritt der Türkei werden. Fraglich ist, ob die Verhandlungen tatsächlich am 3. Oktober beginnen werden und ob das Ziel tatsächlich eine Vollmitgliedschaft sein wird. Der durch das negative Referendum geschwächte französische Präsident und
der schwer angeschlagene deutsche Bundeskanzler waren bislang die stärksten Fürsprecher für einen Türkeibeitritt. Jacques Chirac ist nun zu mehr Skepsis verpflichtet, denn die Mehrheit der Franzosen hat dem bisherigen Kurs eine Absage erteilt. Gerhard Schröder könnte im Herbst bereits von einer konservativ-liberalen Bundesregierung abgelöst worden sein, die aktiv gegen die Aufnahme weiterer EU Mitglieder eintreten könnte.

Mit Rumänien und Bulgarien sind im Gegensatz zur Türkei bereits Verträge zur Aufnahme unterschrieben worden, aber auch die müssen in einigen Staaten noch ratifiziert werden. Ob das französische Nein auch hier Auswirkungen haben wird, ist schwer abzuschätzen.

Europa ist mit diesem schweren Rückschlag nicht am Ende, aber die EU wird sich wandeln. Sie wird mehr auf soziale Herausforderungen eingehen müssen. Sie wird sich dem falsch eingeschätzten wirtschaftlichen Gefälle zwischen West und Ost stellen müssen. Sie wird sich weniger schnell vertiefen und erweitern. Das muss am Ende gar nicht mal so schlecht sein.

Sauer ist das EU-Establishment in Brüssel übrigens auf den
französischen Präsidenten, denn Jacques Chirac hätte statt des zornigen Volkes auch einfach das Parlament die Verfassung ratifizieren lassen können. Er wählte aus innenpolitischen Gründen den Weg des Referendums, und Europa muss die Suppe jetzt auslöffeln.