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Deutsche Experten in Libyen

27. August 2011

Nach dem Umsturz braucht Libyen eine neue Verfassung. Ginge es nach westlichen Vorstellungen, wäre sie demokratisch, föderal und Garant einer pluralistischen Gesellschaftsordnung. Deutsche Experten könnten helfen.

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Aufständischer tritt Porträtbild Gaddafis (Foto: AP)
Am Boden: Der langjährige Machthaber GaddafiBild: AP

Die libysche Gesellschaft ist eine Stammesgesellschaft, deren einzelne Stämme sowohl in der neuen Verfassung als auch in der Regierung entsprechend ihrer Größe Berücksichtigung finden müssen. Nach Schätzungen des Politikwissenschaftlers Hanspeter Mattes vom German Institute of Global and Area Studies in Hamburg gibt es derzeit rund 130 Stämme und Großfamilien. Die Familienclans leben eher in den großen Städten, die Stämme hingegen siedeln in den weniger stark bewohnten Gegenden des Landes.

Um diese Stämme gemäß ihrer Größe an den politischen Entscheidungen des Landes in Zukunft beteiligen zu können, befürwortet Mattes in einem Interview mit "Welt online" eine "beduinische, direkte Demokratie". Sie könnte auf die libysche Stammesstruktur Rücksicht nehmen, hat aber mit den in Europa praktizierten Demokratiemodellen wenig gemeinsam. In Libyen könnte demokratische Partizipation über die regionalen Räte organisiert werden, während in Europa diese Funktion durch unterschiedliche Parteien garantiert wird.

Keine westliche Demokratie

Tilmann Röder, Projektleiter am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, sieht aber auch in Libyen Chancen für eine Parteiendemokratie. In einem "Figaro"-Interview für den Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) glaubt er allerdings, dass der Aufbau von Parteien mehrere Jahre dauern würde.

Ein Delegierter der afghanischen Loja Dschirga Kabul bei einer Sitzung der Ratsversammlung (Foto: dpa)
Ein Delegierter der Loja Dschirga in KabulBild: picture alliance / dpa

Die "beduinische, direkte Demokratie" erinnert eher an das System der "Loja Dschirga" – der "großen Versammlung" – in Afghanistan, bei der die Angehörigen der unterschiedlichen Stämme die wichtigen nationalen und ethnischen Fragen gemeinsam klären. Diese Tradition macht eine generelle Übertragung des deutschen oder europäischen Demokratiemodells auf Libyen nach Auffassung von Dr. Hardy Ostry, Teamleiter Afrika der Konrad-Adenauer-Stiftung, wenig sinnvoll.

Bisher noch keine Anfragen an Deutschland

Vorstellbar ist allerdings eine Mischform, in der westliche Demokratievorstellungen und arabische Traditionen nebeneinander stehen. Ein Blick in die anderen Transformationsstaaten Nordafrikas zeigt, dass dieser Prozess beispielsweise in Tunesien schon weit fortgeschritten ist. In diese Mischform ließen sich – so Tilmann Röder – auch Religionsfreiheit für Nichtmuslime oder Gleichberechtigung von Frauen integrieren.

Der nationale Übergangsrat plant, in einigen Monaten Wahlen abzuhalten. Die dann Gewählten müssten eine Verfassungsgebende Versammlung einberufen, die sich mit einer modernen libyschen Verfassung beschäftigt. Sollten dabei Rat und Tat aus Deutschland erwünscht sein, müsste diese Hilfe durch Vertreter des "neuen Libyen" artikuliert werden. Während in Tunesien und Ägypten deutsche Juristen mithelfen, eine neue Verfassung zu erarbeiten, sind aus Libyen bisher noch keine Anfragen in Berlin eingegangen.

Expertise wäre vorhanden: Schließlich haben deutsche Verfassungsexperten das kroatische Steuerrecht mitentwickelt. Aus durchaus eigennützigen Motiven halfen deutsche Juristen auch bei der Entstehung des chinesischen Patentrechts.

Kompromiss nötig

Unabhängig von externer Hilfe könnte der Weg zu einer neuen Verfassung für den Wüstenstaat langwierig werden. Für Hanspeter Mattes kommt es dabei vor allem darauf an, das "schlimmste Szenario" einer Aufspaltung des Landes zu verhindern. Die neue Verfassung muss einen Kompromiss finden zwischen dem stark islamisierten Osten Libyens und dem Westen, der zwar einerseits säkular und pragmatisch, andererseits aber auch konservativ strukturiert sei. Mattes: "Wenn sich hier kein Kompromiss finden lässt, wird eine Aufspaltung wahrscheinlicher."

Je länger es dauert, sich auf den notwendigen Kompromiss zwischen Ost und West zu einigen, desto mehr könnte darunter die Stabilität des Landes leiden. Eine Einigung der Stämme und ihre Mitbestimmung im Rahmen der politischen Willensbildung sind deshalb die Eckpfeiler der neuen Verfassung Libyens. Für Hardy Ostry kommt noch die Gewaltenteilung hinzu, die mit islamischen Vorstellungen durchaus in Einklang steht.

Junger Mann mit der Fahne der Revolution (Foto:dapd)
Die Verfassung muss auf Libyens Traditionen Rücksicht nehmenBild: dapd

Der Einfluss des Islam

Der Chef des Nationalen Übergangsrates, Mustafa Dschalil, spricht von einer "islamischen Rückbesinnung" und gibt damit westlichen Skeptikern Nahrung, Libyen könnte zu einem islamistischen Staat werden. Hanspeter Mattes, der sich seit Jahren mit Libyen beschäftigt, sieht die Gefahr eines theokratischen Staates nach iranischem Vorbildaber nicht. Da die libysche Gesellschaft ohnehin religiös-konservativ sei, werden sich allerdings zwangsläufig religiöse Komponenten auch in der Verfassung wiederfinden, etwa im Ehe- und Familienrecht.

Libyen kann beim Aufbau eines demokratischen Staatswesens einerseits auf funktionierende Staatsorgane wie Polizei, Justiz oder Armee bauen. Andererseits fehlen aber die entsprechenden Personen, die den neuen Staat führen könnten. Unabhängig von diesen Startschwierigkeiten muss in Libyen eine Verfassung gefunden werden, die die Bedürfnisse der Menschen nach Freiheit und Selbstverwirklichung garantiert. Wenn das gewährleistet ist, ist es egal, ob das libysche Demokratiemodell mit oder ohne westliche Hilfe zustande gekommen ist und ob es den Vorstellungen der westlichen Demokratien entspricht.

Autor: Matthias von Hellfeld

Redaktion: Michael Borgers