Verbrechen an der Wurzel packen
9. Juni 2015Jede Gesellschaft leidet unter Kriminalität. Auch in Deutschland spricht die Statistik für sich: Gut sechs Millionen Verbrechen wurden 2014 in Deutschland gemeldet, darunter gut 2000 Morde und Totschläge sowie knapp zweieinhalb Millionen Diebstähle. Die klassische Antwort auf Verbrechen ist Repression, sind Strafprozess und Haft. Seit 20 Jahren aber sucht der Deutsche Präventionstag andere Wege. Er fragt, wie es sich verhindern lässt, dass Menschen zu Opfern von Verbrechen werden. Und wie es sich verhindern lässt, dass Menschen in kriminelle Karrieren abgleiten und zu Tätern werden.
Beim Kongress des deutschen Präventionstages in Frankfurt wird seit Montag zwei Tage lang nach Antworten auf diese Fragen gesucht. Ein bunter Strauß von rund 200 Initiativen stellt in einer Ausstellung eine Fülle an Ideen vor, wie Kriminalität vorzubeugen ist. Da ist das Boxcamp aus dem Frankfurter Gallus-Viertel, das Jugendlichen Selbstvertrauen und klare Ziele gibt. Da ist eine Theatergruppe, die in der Suchtprävention arbeitet. Da erfährt der Hausbesitzer, wie sich sein Heim gegen Einbrecher sichern lässt. Manche, wie der Olympische Sportbund, sind gleich mit einem ganzen Maßnahmenbündel vertreten: Für Fair Play und gegen Doping, gegen Rassismus und Diskriminierung, zum Schutz vor sexuellen Übergriffen und Gewalt gegen Kinder. Vor dem Kongresszentrum wird Prävention mit Trommelstöcken betrieben: Die Gruppe Beat-Stomper demonstriert, wie mit geringen Mitteln aber konsequentem Training großer Klang aus Holzkisten und Blechdosen entsteht – und ein Gefühl von Zusammenhalt.
Prävention rechnet sich
Über 3000 Besucher aus mehr als 40 Ländern haben den Weg nach Frankfurt gesucht. Bei knapp 200 Einzelveranstaltungen können sie sich über die aktuellen Trends in der Prävention informieren. Beim sogenannten Annual International Forum gibt es zugleich Einblicke in internationale Ansätze der Prävention. Aus bescheidenen Anfängen 1995 mit rund 200 Teilnehmern hat sich der Präventionstag zum heute europaweit größtem Kongress für die Kriminalprävention entwickelt. Erich Marks ist der Geschäftsführer des deutschen Präventionstages. Anlässlich des 20. Jubiläums ist ihm im DW-Interview wichtig, "dass wir die gesamte Bandbreite der Prävention im Blick haben. Und es ist natürlich auch wichtig, dass wir das Thema Ökonomie in den Mittelpunkt stellen. Die Frage: Rechnet sich Prävention? Und: Was müssen wir tun, damit sie sich rechnet?"
Diese Fragen stehtenim Zentrum des Kongresses. Die Ökonomie der Kriminalprävention hat der Hannoveraner Wirtschaftswissenschaftler Stephan Thomsen für den Präventionstag untersucht. Ein 83-Seiten umfassendes Gutachten des Direktors des Niedersächsischen Instituts für Wirtschaftsforschung soll als Ausgangspunkt der Debatte dienen. Die Materie ist knifflig, wie Thomsen im Gespräch mit der DW betont: "Die Hauptschwierigkeit liegt darin, die Kosten der Prävention zu bestimmen und zuzuordnen. Oder überhaupt die Kosten der Kriminalität zu bestimmen und zuzuordnen. Wir können materielle Kosten von Straftaten bis zu einem gewissen Punkt erfassen. Aber viel schwieriger wird es, die immateriellen Kosten zu bestimmen wie psychisches Leid und Folgekosten, die durch Furcht, Angst auch bei Dritten entstehen."
Lückenhafte Datenbasis
Deutschland, so Thomsen, hinke bei der statistischen Erfassung der Kriminalität und ihrer Folgen hinterher. Inzwischen sei aber die Datenbasis breiter und auch die methodischen Ansätze lägen vor. Man müsse sie nur noch auf Deutschland anwenden. Thomsen gibt sich aber überzeugt, dass Prävention eine Investition ist, die sich für die Gesellschaft lohnt. Der Ökonom verweist zum Beweis unter anderem auf eine US-Studie: Die habe ergeben, dass für jeden Dollar Investition in frühkindliche Bildung bei sozial schwachen Familien die Gesellschaft einen Nutzen von 16 Dollar hatte. Allein elf Dollar davon seien auf die Verringerung der Kriminalität entfallen.
Hinter dem Präventionstag steht die Deutsche Stiftung für Verbrechensverhütung und Straffälligenhilfe, DVS. Den Vorsitz hat der emeritierte Kriminologe Hans-Jürgen Kerner. Der betonte zu Beginn des Präventionstages in Frankfurt, das Prävention kein Selbstläufer sei. Ämter müssten mehr zusammenarbeiten, die Politik müsse handeln, statt nur zu reden, Projekte müssten besser ausgewertet werden. Gleichzeitig blickt Kerner im Interview mit der DW mit einer gewissen Zufriedenheit auf das in den letzten 20 Jahren Erreichte: "Die Idee, dass man überhaupt, statt nur zu verfolgen schon vorher eingreift, ist zwar abstrakt akzeptiert, aber im konkreten Umfeld sehr schwierig umzusetzen gewesen. Wir haben am Anfang sehr viel Energie verbraucht, einfach diese alten Routinen, diese Wege, die man gegangen ist: erstens zu verunsichern, zweitens ein bisschen aufzubrechen und drittens die Leute zusammen zu bringen." Für den Kriminologen aus Tübingen ist das Reden über Geld – und damit die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen da nur folgerichtig: Bei der Prävention müssten Aufwand und Ertrag kontrolliert werden, fordert Kerner. Aber auch bei der Repression.