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Literatur

Sprechen wir noch wie die Nazis?

Sabine Peschel
19. März 2019

Kulturschaffende, Parteigenossen, Eintopf - diese Wörter wirken harmlos, doch sie haben eine spezielle Vergangenheit. Der Autor Matthias Heine zeigt: Sie wurden geprägt in der Zeit des Nationalsozialismus.

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Eintopfsonntag Plakat
Bild: CC BY 4.0

Es geht ihm nicht um offensichtliche Nazi-Terminologie. Der Journalist und Autor Matthias Heine ordnet vorbelastete Begriffe historisch ein, die wir in der Alltagssprache unbefangen verwenden. Denn oftmals ist der problematische Ursprung nur noch schwer auszumachen. Andere Begriffe wiederum werden zu Unrecht unter Naziverdacht gestellt. Mit seinem Buch "Verbrannte Wörter: Wo wir noch reden wie die Nazis - und wo nicht" möchte er für einen bewussten Umgang mit der deutschen Sprache sensibilisieren.

Deutsche Welle: Herr Heine, ist unsere Sprache tatsächlich durch die Nationalsozialisten geprägt?

Matthias Heine: Es gibt auf jeden Fall eine Menge Begriffe, die wir benutzen, ohne uns bewusst zu sein, dass es Wörter sind, die - zumindest teilweise - eine Nazi-Geschichte haben: Wörter, die in ihrer Wortgeschichte durch den NS-Sprachgebrauch geprägt oder mitgeprägt sind. Und Wörter, die die Nazis erfunden haben, oder die durch die Nazis erst so richtig in Gebrauch gekommen sind. Ein berühmtes Beispiel aus den letzten Jahren war, dass eine Journalistenkollegin vom "Spiegel" im morgendlichen Newsletter schrieb, die Sonderbehandlung Israels durch die deutsche Außenpolitik müsse vorbei sein. Da ist ihr dann ein veritabler kleiner Shitstorm um die Ohren geflogen, weil "Sonderbehandlung" nachweislich ein häufig gebrauchtes Synonym für Massenmord, für Ermordung im System der Konzentrationslager und im nationalsozialistischen Mordsystem war.

Matthias Heine
Journalist und Autor Matthias HeineBild: Martin U. K. Lengemann/WELT

Ist "Parteigenosse" auch so ein Begriff?

Ja. "Parteigenosse" ist sicher nicht das schlimmste Wort, aber es ist eben ein Wort, das in der NS-Zeit reserviert war - weil es ja ohnehin nur eine Partei gab - für Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei, der NSDAP. "PG" wurde das auch abgekürzt, denn die Nazis hatten ja einen Abkürzungsfimmel. Willy Brandt, Erich Ollenhauer oder Kurt Schumacher hätten unmittelbar nach 1945 ihre Genossen in der SPD vermutlich nicht als Parteigenossen bezeichnet, weil jeder noch das Wort im Ohr hatte. Deswegen entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass sich mittlerweile auch SPD-Leute untereinander mit "Parteigenosse" anreden.

Sie haben 87 Begriffe auf ihre NS-Vergangenheit hin abgeklopft. Wie haben Sie diese Begriffe ausgewählt?

Es gibt ja eine umfangreiche einschlägige Literatur, die anfängt mit Victor Klemperers "LTI" und "Aus dem Wörterbuch des Unmenschen" von W.E. Süskind und anderen. Beide erschienen unmittelbar in der Nachkriegszeit in den späten Vierzigerjahren und beschäftigten sich erstmals mit der Sprache des Nationalsozialismus. Die schaut man sich natürlich zuallererst an. Und dann gibt es das kaum zu übertreffende Standardwerk von Cornelia Schmitz-Berning: "Vokabular des Nationalsozialismus". Sie weiß mehr als jede und jeder andere über nationalsozialistischen Wortgebrauch.

Ich habe mich aber bewusst - im Gegensatz zu ihr - auch für Wörter entschieden, die nicht zum offiziellen Nazi-Gebrauch gehörten, also nicht zum Mord- oder Organisations-Wortschatz, sondern eher alltagssprachliche Begriffe waren, Wörter wie "Eintopf", "entrümpeln" oder "Groschengrab". Das beispielsweise ist ein Wort, das aus der Nazi-Propaganda stammt. Man wollte damit zum Sparen anregen - und wir benutzen es ganz unbefangen. Das kann man meiner Meinung nach auch. Diese Wörter haben mich oft mehr interessiert, denn bei "arisch", "Rassenschande" und "Untermensch" wissen wir alle, was wir davon zu halten haben.

Ich habe gestaunt, dass es ein so klein und harmlos daherkommendes Wort wie der Artikel "der" auf Ihre Liste geschafft hat.

Ja, das ist dieser Kollektiv-Singular "der", der typisch ist im nationalsozialistischen Sprachgebrauch: "der Jude", "der Russe", "der Engländer". "Der Deutsche" steht natürlich immer in positiven Zusammenhängen. Aber abgesehen von "der Deutsche": Wenn eine Gruppe erst einmal mit "der" im Kollektiv-Singular angeredet wurde, dann wusste man, dass ihr Gefahr drohte. "Der" war ein Versuch, die Individualität zu vertreiben, fast schon der Dehumanisierung. Das ist ein Phänomen sehr vieler NS-Vokabeln, dass sie die Gegner dehumanisieren.

Diese Verwendung des Artikels entsprach auch ein bisschen der Sprache der Zeit. Man denke nur an die Abhandlung "Der Arbeiter" von Ernst Jünger, der den Nazis durchaus kritisch gegenüberstand, obwohl er selber rechts war. Aber in der Nazi-Sprache hat die Verallgemeinerung eine besondere Schärfe angenommen - man hat damit Opfergruppen stigmatisiert.

Wie kommt ein so modern klingender Begriff wie "Kulturschaffende" auf Ihre Vokabelliste der NS-Sprachverdächtigen?

Er kommt dahin, weil das eindeutig ein Wort ist, das von den Nazis geprägt wurde: 1933, als die Reichskulturkammer gegründet wurde, kam im Zusammenhang mit der Berichterstattung und mit öffentlichen Appellen plötzlich das Wort "Kulturschaffende" auf. Es wurde von Leuten, die der Schaffung der Reichskulturkammer positiv gegenüberstanden, und von Künstlern und "Kulturschaffenden", die ihre nationalsozialistische Gesinnung bekunden wollten, geprägt und benutzt - vorher ist es nicht nachweisbar.

Es hat eine ironische Komponente, dass sich das Wort in die DDR gerettet und sich auch lange im linken westdeutschen Wortschatz - wahrscheinlich auf dem Umweg über die DDR - gehalten hat. Und wenn im letzten Jahr Künstler gegen vermeintlich rassistische Bestrebungen von Horst Seehofer protestiert haben und dieser Aufruf dann als Aufruf von so und soviel hundert Kulturschaffenden bezeichnet wurde, dann entbehrt das nicht einer gewissen Ironie, dass man unter einer Bezeichnung, die aus dem NS-Sprachgebrauch stammt, gegen das Aufkommen eines neuen Rassismus protestiert.

Sie haben erstaunlicherweise auch einige Wörter oder Redensarten zumindest teilweise rehabilitiert, die man sofort unter Nazi-Verdacht stellt, zum Beispiel den "inneren Reichsparteitag" und das absolut verdächtige "bis zur Vergasung". Können Sie das erklären?

Beide Redensarten stammen definitiv nicht aus der NS-Sprache und bedeuten auch nicht das, was man damit verbindet. "Bis zur Vergasung" lässt sich nachweisen, bevor das erste Mal eine Gaskammer gebaut wurde. Es stammt aus der Schülersprache und kommt aus der Chemie. Wir gebrauchen auch heute Sprachbilder wie "es kocht in mir", oder "eine Unterhaltung kommt zum Siedepunkt".

Mit dem "inneren Reichsparteitag" ist es ähnlich. Das ist eher ein Sprachgebrauch aus den Dreißigerjahren, mit dem man sich ironisch der offiziellen Sprache bediente. Man hat versucht nachzuweisen, dass das angeblich auch in der Hitlerjugend gebraucht wurde, was sicher stimmt. Nur bestand die Hitlerjugend ja aus ganz normalen Schülern - da musste ja jeder Mitglied sein. Die haben natürlich auch die Jugendsprache ihrer Zeit gebraucht, Wörter wie "kolossal", die zum Modewortschatz der Dreißigerjahre gehörten. Das bedeutet nicht, dass das besonders faschistisch war, wenn auch Hitlerjungen "innerer Reichsparteitag" gesagt haben. Man hört ja auch schon eine gewisse ironische Distanz heraus - ich jedenfalls kann mir Adolf Hitler nicht vorstellen, wie er sagt: "Das ist mir ein innerer Reichsparteitag".

Ihre Beobachtungen und Analysen sind sehr unterhaltsam. Sie haben sich aber darüber hinaus entschlossen, unter jeden Begriff auch noch eine Empfehlung zu setzen, ob wir das Wort gebrauchen oder nicht gebrauchen und inwiefern wir uns des historischen Hintergrunds besonders bewusst sein sollten. Brauchen wir so etwas wie eine Sprachpolizei? Eine Instanz, die unsere Sprache scharf beobachtet und sich bei verdächtigen Begriffen zu Wort meldet?

Definitiv nein. Es geht mir in meinem Buch nicht darum, als Sprachpolizei aufzutreten, sondern es geht um Takt, Höflichkeit, angemessenen Wortgebrauch, Sinn für die Ebene eines Wortes - also kurz um alles, was Stil ausmacht. Man soll einfach diese Informationen nutzen und sich dann überlegen können, ist das Wort hier am Platze? Ich habe ja zum Beispiel auch davon abgeraten, einen Ausdruck wie "bis zur Vergasung" zu benutzen. Nicht weil er aus der Nazizeit stammt, sondern weil er nun mal diese Assoziationen weckt.

Es geht um Aufklärung, und es geht auch um die Befriedigung von Neugier. Ich fand es einfach faszinierend, darauf zu stoßen, dass "entrümpeln" ein Wort ist, das erst in den Dreißigerjahren im Zusammenhang mit bestimmten Maßnahmen der Nazis aufgekommen ist.

Lässt sich ausmachen, welche gesellschaftlichen Gruppen oder Strömungen heute noch besonders NS-belastete Begriffe verwenden?

Im Zusammenhang mit dem Aufkommen rechtspopulistischer Bewegungen in den letzten Jahren gibt es einen auch ganz bewusst von diesen Leuten gepflegten Sprachgebrauch. Einerseits gebrauchen sie - zumindest die rechtsextremen Rechtsausleger - Nazi-Begriffe, wie sie die Nazis auch gebraucht haben. Das Wort "zersetzen" zum Beispiel hat Herr Poggenburg, der ja auch innerhalb der AfD durchaus als Rechtsausleger gilt, den nicht alle AfD-Leute gut finden, gebraucht. Er sprach im Zusammenhang mit Frauen bei der Bundeswehr von "Zersetzung der Wehrfähigkeit" - da ist man ja schon sehr nahe an der "Wehrkraftzersetzung". "Zersetzen" war ein Standardvorwurf der Nazis. Dann gibt es auf der anderen Seite dieses merkwürdige Phänomen, dass Begriffe genommen und leicht umgedeutet werden. So reden Rechtspopulisten häufig von der "gleichgeschalteten Presse" und dem "gleichgeschalteten Staatsfunk" und stellen sich damit quasi als Opfer dar.

Ein anderer Begriff, der sehr häufig im rechtspopulistischen Sprachgebrauch neuerer Zeit vorkommt, ist "Umvolkung". Das war in der Nazizeit aber eher ein Begriff, den man aktiv und positiv gebraucht hat. Man hat gesagt, in Osteuropa gibt es bestimmte Bevölkerungsgruppen, Weißrussen, die kann man "umvolken", man kann sie zu Deutschen oder "Germanen" machen. Jetzt ist es auf einmal so, dass die Deutschen im rechtspopulistischen Sprachgebrauch von der "Umvolkung" bedroht sind. Da findet eine aktive Wiederbelebung dieses Wortschatzes statt.

Matthias Heine, 1961 geboren, arbeitet als Journalist in Berlin, seit 2010 als Kulturredakteur der "Welt". Sein Buch "Verbrannte Wörter: Wo wir noch reden wie die Nazis - und wo nicht" erschien im Dudenverlag (2019). Weitere Bücher von ihm sind: "Seit wann hat 'geil' nichts mehr mit Sex zu tun?" (2016) und "Letzter Schultag in Kaiser-Wilhelmsland. Wie der Erste Weltkrieg die deutsche Sprache für immer veränderte" (2018). 

Das Interview führte Sabine Peschel.