Pädophilie als sexuelle Präferenz
2. März 2015Fragen an Jens Wagner, Pressesprecher des Präventionsnetzwerks "Kein Täter werden"
DW: Herr Wagner, sind Menschen, die sich Missbrauchsabbildungen anschauen, zwangsläufig pädophil?
Jens Wagner: Nein. Generell kann man sowohl beim sexuellen Kindesmissbrauch als auch beim Konsum von Missbrauchsabbildungen nicht automatisch davon ausgehen, dass die Täter pädophil sind. Häufig handelt es sich auch um sogenannte "Ersatzhandlungstäter" - das heißt, die Täter sind eigentlich sexuell auf erwachsene Sexualpartner ausgerichtet, begehen aber Kindesmissbrauch, beispielsweise aufgrund einer Persönlichkeitsstörung.
Was versteht man denn wissenschaftlich unter dem Begriff der Pädophilie?
Pädophilie ist die ausschließliche oder überwiegende sexuelle Ansprechbarkeit durch vorpubertäre Kinderkörper. Eine sexuelle Präferenz sucht sich niemand aus. Sie ist Schicksal und nicht Wahl.
Weiß man, wie Pädophilie entsteht?
Die genauen Ursachen, wie sich die sexuelle Präferenzstruktur in einem Menschen ausbildet, sind nicht abschließend erforscht. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass dabei sowohl biologische und psychische als auch soziale Faktoren eine Rolle spielen.
Sind sexuelle Beziehungen zu Erwachsenen für Pädophile ausgeschlossen?
Nicht unbedingt. In unserem Berliner Standort des Präventionsnetzwerks "Kein Täter werden" haben etwas mehr als ein Drittel der Betroffenen eine ausschließliche sexuelle Ansprechbarkeit auf den kindlichen Körper. Das bedeutet, dass sie ausschließlich durch den kindlichen Körper erregbar sind. Für sie ist es geradezu unmöglich, eine sexuelle Beziehung mit Erwachsenen zu führen. Es gibt aber auch Betroffene, die zum Beispiel auch durch den erwachsenen Körper erregbar sind.
Das Projekt "Kein Täter werden" richtet sich an pädophile Männer. Wie funktioniert es genau?
Das Ziel des Projektes ist die Verhinderung sexuellen Kindesmissbrauchs und die Verhinderung des Konsums von Missbrauchsabbildungen. Darüber hinaus helfen wir den Teilnehmern, mit ihrer Sexualität klarzukommen und Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen.
Im Projekt bieten wir zu Beginn eine sehr ausführliche Diagnostik an. Die Therapie findet dann in der Regel wöchentlich und in Gruppen statt und dauert ungefähr ein Jahr.
Im Kern ist das Therapieangebot verhaltenstherapeutisch orientiert und integriert psychotherapeutische und sexualwissenschaftliche Ansätze sowie die Möglichkeit einer zusätzlichen medikamentösen Unterstützung. Die wird auch von zehn bis 20 Prozent der Teilnehmer genutzt. Die Medikamente dämpfen die sexuellen Impulse und das sexuelle Erleben.
Wie offen sollten die Teilnehmer ihrer Meinung nach mit ihrer Präferenz in der Öffentlichkeit umgehen?
Unsere Gesellschaft ist leider noch nicht bereit dafür, dass ein Pädophiler sich ähnlich wie ein abstinenter Alkoholiker öffentlich outen kann. Ein Alkoholiker kann auf einer Party ein Glas Wein ablehnen und offen sagen "Ich bin Günter und ich bin Alkoholiker" - und sicherlich bekommt er noch Anerkennung dafür, dass er verantwortungsbewusst mit seiner Sucht umgeht. Ein Pädophiler, der beispielsweise die Frage seines Nachbarn, ob er am Wochenende auf sein Kind aufpassen kann, ebenso verantwortungsvoll ablehnt und sagt: "Tut mir leid, ich stehe auf Kinder. Und aus diesem Grund gehe ich dieser Risiko-Situation aus dem Weg", wird wahrscheinlich umziehen müssen, weil er ab diesem Moment sozial geächtet wäre.
Wir wissen aber, dass soziale Kontrolle das Risiko für sexuellen Kindesmissbrauch senkt. Insofern fördern wir das auf jeden Fall, wenn Teilnehmer ihr soziales Umfeld wie enge Freunde oder die Familie einbeziehen.
Was wissen sie denn aus ihren wissenschaftlichen Studien: Wie berechtigt sind die Sorgen, dass ein Pädophiler seine sexuellen Phantasien in die Tat umsetzt?
Wir wissen, dass das Vorliegen einer Pädophilie einer der wichtigsten Risikofaktoren für das Begehen von sexuellem Kindesmissbrauch und des Konsums von Missbrauchsabbildungen ist. Wir wissen aber auch, dass sehr viele Betroffene ihre Neigung nicht ausleben und damit verantwortungsbewusst leben. Diese Menschen müssen auch nicht zwangsläufig zu uns ins Projekt kommen und Hilfe suchen.
Der Edathy-Prozess lenkte wieder Aufmerksamkeit auf das Thema Pädophilie. Was wünschen sie sich für die öffentliche Diskussion?
Ich wünsche mir noch mehr gesellschaftliche Aufklärung. Wir brauchen eine Enttabuisierung und Entstigmatisierung der sexuellen Präferenz Pädophilie. Und wir müssen deutlicher zwischen sexueller Präferenz und sexuellem Verhalten trennen. Es ist auch im Sinne einer erfolgreichen Prävention wichtig, unaufgeregter und differenzierter über das Thema zu sprechen.
Diese Differenzierung ist natürlich schwer, weil das Thema sexueller Kindesmissbrauch eines der schlimmsten Verbrechen überhaupt ist. Aber es gibt viele pädophile Menschen, die diese Neigung haben. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Denn wenn Pädophilie und Kindesmissbrauch gleichgesetzt werden, führt das dazu, dass sich die betroffenen Menschen isolieren. Und dadurch wächst das Risiko, dass sie ihre Neigung ausleben.
Wir brauchen - das ist mir ganz wichtig - einen generellen Ausbau der Präventionsangebote für Kinder und Jugendliche sowie der Opferversorgung. Und wir benötigen weitaus mehr wohnortnahe anonyme Therapieangebote für hilfesuchende pädophile Menschen, die keine Taten begehen wollen.
Jens Wagner ist Mitarbeiter des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Berliner Charité und Pressesprecher des Präventionsnetzwerks "Kein Täter werden".