Venedig ohne Touristenmassen, geht das?
21. Februar 2018"Prossima vernata Venezia Santa Lucia!" Der Lokführer kündigt die Ankunft in Venedig an. Ich blicke aus dem Fenster, während der Zug die "Ponte della Liberta" überquert, also jene Eisenbahnbrücke, die die venezianischen Inseln mit dem italienischen Festland verbindet. Sie ist ein sicheres Zeichen dafür, dass ich gleich in einer der schönsten Städte der Welt ankomme. Vielen gilt Venedig als überfüllt und überbewertet. Ich aber entdecke jedes Mal neue Facetten dieser Stadt voller Magie und Romantik, von der so viele Dichter geschwärmt haben.
Ausweichen in ruhige Viertel
Im Sommer ist Venedig voller Touristen, und jeder Besucher sollte dies im Voraus wissen. Ein Spaziergang rund um die Piazza San Marco kann sich in einen Albtraum verwandeln: tausende Menschen packen ihre Kameras und Selfiesticks aus und schießen Fotos. Die Kanäle sind überfüllt mit Gondeln, die bis auf den letzten Platz mit Paaren und Familien besetzt sind. Es sieht eher aus wie ein Verkehrsstau als nach einer romantischen Bootstour. Und es kann Stunden dauern, bis man in einem Restaurant in den Stadtbezirken San Marco oder San Polo einen Tisch ergattert.
Das ist kein Wunder, denn Venedig zieht jährlich mehr als 20 Millionen Besucher an, die alle genauso wie ich die Highlights erleben wollen. Ich will nicht sagen, dass man Venedig im Sommer überhaupt nicht besuchen sollte. Aber es ist gut zu wissen, an welche Orte man in den Sommermonaten ausweichen kann. Und zu welcher Jahreszeit man wiederkommt, um die Hauptattraktionen zu besichtigen.
"Wassertaxi, wollen Sie ein Wassertaxi?", ruft aufdringlich ein Verkäufer gleich nach dem Verlassen des Bahnhofs, was meinen ersten Eindruck von Venedig überschattet. Ich nehme den Stadtplan heraus und versuche herauszufinden, wie man zu den Stadtteilen Castello und Cannaregio gelangt, die ich während meines Aufenthaltes in Venedig erkunden will.
Castello und Cannaregio sind die beiden größten "sestieri", also Stadtbezirke von Venedig. Hier kann man noch den Alltag von Venedig erleben: Leute, bepackt mit Einkaufstüten, sind auf dem Rückweg nach Hause. Kinder spielen Fußball in einem kleinen offenen Hof, und Frauen hängen Wäsche auf. Wäscheleinen - ein Bild, das man in San Marco wohl kaum findet. Die Tage in Castello und Cannaregio sind ruhig und friedlich. Ich verbringe meine Nachmittage damit, neben den Kanälen Wein zu trinken oder ein Buch zu lesen in einem der viele Cafés.
Wer eine längere Zeit in Venedig verbringt, sollte auch einen Tagesausflug auf die Inseln Murano und Burano einplanen. Die kann man leicht mit dem Vaporetto, dem Wasserbus, erreichen. Murano ist nicht sehr touristisch und lockt mit farbenfrohen Straßen und charmanten Geschäften. Auch Burano ist eine gute Adresse für ruhige Gassen, gute Restaurants und nette Cafés.
Wie die Venezianer genießen
Der Winter ist die beste Jahreszeit, um Venedigs Hauptattraktionen zu besichtigen. Keine langen Warteschlangen, keine Touristenmassen und keine nervenden Verkäufer, die einem überall auflauern. Die Preise sind moderater als im Sommer, und es sollte auch kein Problem sein, ein Restaurant für ein romantisches Abendessen in San Marco zu finden. Die Stadtverwaltung von Venedig wirbt unter #enjoyrespectvenezia für einen gemäßigten Tourismus: Demnach sollten Besucher Venedig und den Einheimischen respektvoll begegnen, und sie sollten die Stadt am besten in der Nebensaison besuchen.
San Marco, San Polo und Dorsoduro sind einfach wunderschön zu dieser Jahreszeit. Man kann die Hauptattraktionen besichtigen, ohne Angst zu haben, jemanden auf die Zehenspitzen zu treten oder unfreiwillig auf dem Foto eines anderen Touristen verewigt zu werden. Mit kühlerem Wetter und kürzeren Tagen legt sich eine Art Passivität über Venedig, in der sich alles langsamer bewegt. Die Atmosphäre entspannt sich, in den Bars zieht Ruhe ein.
Es gibt keine Touristenmassen, die jeden Morgen von den Kreuzfahrtschiffen über die Stadt herfallen. Der morgendliche Espresso verwandelt sich tatsächlich in einen Genuss und nicht in einen Kampf um einen Platz an der Bar. In der Nebensaison kann man auch in das echte venezianische Leben eintauchen. Im Sommer flüchten die meisten Venezianer aus ihrer Stadt, aber im Winter genießen sie Venedig, ohne sich wie ein Fremder in der eigenen Wohnung zu fühlen. "Vor einigen Jahren hatten wir noch über 170.000 Einwohner", erzählt mir ein Venezianer, während er in einem Pub in San Marco ein Bier trinkt. "Jetzt sind wir weniger als 50.000."
Die UNESCO droht damit, Venedig auf die rote Liste der bedrohten Welterbestätten zu setzen, und irgendwie kann ich das verstehen. Natürlich muss man diese magische Stadt nicht gänzlich meiden. Aber ich plädiere für mehr Flexibilität in unseren Reiseplänen und für mehr Verantwortung für die Art und Weise, wie wir reisen. Das spart Kosten, ermöglicht Einblicke in das authentische Leben vor Ort. Und es hilft, die Auswirkungen des Massentourismus abzufedern, die, da bin ich mir sicher, nicht nur die Einheimischen hassen.