Wenn die US-Wahlnacht keinen Gewinner bringt
2. November 2020Für gewöhnlich laufen die Ergebnisse der US-Wahl in der Nacht ein. In den frühen Morgenstunden räumt anschließend der unterlegene Kandidat in einer Rede seine Niederlage ein.
Aber in diesem Jahr hat sich aus Sorge vor der Corona-Pandemie eine Rekordzahl von Amerikanern für die Briefwahl entschieden. Das bedeutet, die Stimmauszählung wird länger dauern, die "Wahlnacht" könnte sich tage- oder gar wochenlang hinziehen. Dazu die Zweifel einiger Republikaner an der Glaubwürdigkeit der Briefwahl und die wiederholte Weigerung Präsident Donald Trumps, zu versprechen, dass er das offizielle Wahlergebnis anerkennen werde. All das könnte zu einer chaotischen Nachwahlphase führen.
Folgende Szenarien der US-Wahl 2020 wären denkbar:
Briefwahl verlangsamt den Prozess
Aufgrund der Corona-Pandemie wurden laut New York Times für die Parlamentswahlen 81,7 Millionen Briefwahlunterlagen angefordert oder verschickt. Experten schätzen, dass jede zweite Stimme per Post kommen könnte.
In Colorado, Oregon, Washington, Utah und Hawaii ist das kein Problem. Die Wahlhelfer dort sind mit dem Prozedere vertraut. Andere Staaten, in denen seit März die Briefwahl für die Bürger erleichtert wurde, könnten einen Tag oder mehr für die Auszählung der Stimmzettel brauchen - besonders diejenigen Staaten, die erst am Wahltag die Stimmzettel auszählen dürfen, zum Beispiel die sogenannten "Battleground States" wie Wisconsin und Pennsylvania. In diesen umkämpften Staaten haben Republikaner wie Demokraten gute Chancen auf einen Wahlsieg.
Während der Vorwahlen im März dieses Jahres brauchten die Bundesstaaten im Schnitt vier Tage, um nahezu vollständige Ergebnisse zu melden, ergab eine Analyse der Washington Post.
"Die Wahlmanager dieses Landes, die Administratoren, sind sehr, sehr engagiert", erklärt Edie Goldenberg, Professorin für öffentliche Politik und Politikwissenschaft an der Universität von Michigan. "Ich denke, dass viele der Schwierigkeiten angegangen wurden, die bei einer Reihe von Vorwahlen deutlich wurden."
Wenn der Poststempel gilt
Bei den Parlamentswahlen im November werden die Staaten viel mehr Stimmzettel bearbeiten als bei den Vorwahlen. Einige Bundesstaaten haben ihre Fristen verlängert und akzeptieren noch bis Mitte November per Brief abgegebene Stimmen, die einen Poststempel vom Wahltag haben - darunter sind Pennsylvania, North Carolina und Michigan, sogenannte "Swing States", in denen keine der beiden Parteien dominiert.
Selbst für Staaten, in denen die Stimmzettel bis zum Wahltag eingehen müssen, kann es eine Woche dauern, bis alles ausgezählt ist.
"Es ist schwierig, etwas vorherzusagen", meint Goldenberg. Einige Staaten würden schon in der Wahlnacht wissen, wo sie in Bezug auf die Abstimmung stehen. Aber viele von ihnen werden es nicht wissen.
Zweifel an der Stimmabgabe
Im Vorfeld dieser Wahlen haben Präsident Trump und andere Republikaner die Glaubwürdigkeit der Briefwahl in Frage gestellt. Obwohl Betrugsfälle bei der Briefwahl - wie auch Abstimmungsbetrug im Allgemeinen - laut einer Analyse der New York Times sehr selten sind.
Der Präsident selbst schickt seine Stimme per Post ein, auch bei den letzten Kongresswahlen und der Vorwahl in Florida in diesem Jahr hat er das getan.
Trump sei "besorgt über bestimmte Staaten, die automatisch Stimmzettel an jeden registrierten Wähler verschicken", sagte der amtierende Vize-Sekretär des Ministeriums für innere Sicherheit, Ken Cuccinelli, der DW.
Laut Politikwissenschaftlerin Goldenberg haben in der Vergangenheit etwas mehr Republikaner als Demokraten die Stimmabgabe per Post genutzt. Doch das wird dieses Mal wohl anders sein. Sechs von zehn Wahlberechtigten wollen persönlich ins Wahllokal gehen (davon 80 Prozent Republikaner und 40 Prozent Demokraten). Die restlichen Wahlberechtigten machen ihr Kreuz auf dem Briefwahlzettel, sagt die Denkfabrik Brookings-Institution voraus.
Das unterschiedliche geplante Abstimmungsverhalten von Demokraten und Republikanern wird Auswirkungen auf die Hochrechnungen haben. So könnten die vorläufigen Auszählungen aus den Wahllokalen zunächst die Republikaner in Führung sehen, während später die Resultate der Briefwahl-Auszählung einen Aufschwung für die Demokraten zeigen könnten.
Eine Wahl der Juristen?
Republikaner wie Demokraten rechnen mit einer juristischen Auseinandersetzung nach der Wahl, hunderte Klagen liegen bereits vor. Beide Wahlkampfteams haben schon vor einiger Zeit große Juristenteams zusammengestellt. Die meisten Klagen werden vor Bundesgerichten entschieden, erklärt Bruce Ackerman, Verfassungswissenschaftler und Juraprofessor an der Yale Law School.
Dass auch der Supreme Court, der oberste Gerichtshof, wieder eine Rolle spielen würde, ähnlich wie im Jahr 2000, halten Ackermann und andere Experten für unwahrscheinlich. Auch wenn Präsident Trump erst im September erklärte, er rechne damit, dass die Wahl vor dem Supreme Court landen werde.
Beim Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen George W. Bush und Al Gore im Jahr 2000 zog sich die Stimmauszählung so lange hin, dass der Supreme Court schließlich ein Ende der Auszählung anordnete und der Republikaner Bush gewann.
"Der Streit von Bush gegen Gore war ein Präzedenzfall und schockierte Rechtswissenschaftler aus dem gesamten Spektrum." so Ackerman im DW-Gespräch.
Seiner Ansicht nach wird bei dieser Wahl wohl eher der Kongress den Gewinner ermitteln.
Endgültige Entscheidung muss im Januar fallen
Erhält kein Kandidat die Mehrheit, aufgrund eines Unentschieden oder wegen ungelöster Streitigkeiten über die Stimmen der einzelnen Staaten zum Beispiel, dann würde das neu gewählte Repräsentantenhaus erst am 6. Januar 2021 über den Präsidenten entscheiden. So legt es die US-Verfassung fest. Das letzte Mal geschah dies im 19. Jahrhundert.
Kompliziert wird es auch dadurch, dass der Kongress die Ergebnisse aus einem Staat nicht unbedingt akzeptieren muss. Dann nämlich, wenn in diesem Staat bis zum 8. Dezember keine Wahlmänner aufgestellt wurden - etwa wegen noch anstehender Rechtsstreitigkeiten.
Was geschieht, wenn bis zum Tag der Amtseinführung am 20. Januar nicht über einen Präsidenten entschieden ist? Dann geht das Amt an den gewählten Vizepräsidenten oder den Sprecher des Repräsentantenhauses über. Je nachdem, ob der Senat bis zum 20. Januar einen Vizepräsidenten gewählt hat.
Was, wenn Trump die Wahl nicht anerkennt?
Ein weiteres mögliches Szenario ist, dass Trump sich bei einer Niederlage weigert, das Wahlergebnis zu akzeptieren. Als Antwort auf Trumps Kommentar "Wir müssen sehen, was passiert" verabschiedeten die US-Senatoren im September einstimmig eine Resolution, die einen friedlichen Machtwechsel garantiert.
Viele Wahlbeobachter hoffen weiterhin, dass die Ergebnisse so eindeutig sein werden, dass es nicht dazu kommen wird, dass Trump sich weigert. "Ich bin optimistisch, dass das so werden wird, weil das Interesse an den Wahlen extrem hoch ist", meint Politikprofessorin Goldenberg. "Ich denke wirklich, dass wir im November eine einigermaßen reibungslose Wahl durchführen werden."