Unternehmer-Proteste in Belarus
24. Januar 2008Noch nie wirkte die riesige Markthalle in Minsk so leer und verlassen. Normalerweise herrscht hier zu jeder Tageszeit reges Treiben, riecht es nach frisch gebackenem Brot, eingelegtem Weißkohl und Blutwürsten, stehen die Händler dicht an dicht und preisen laut ihre Waren an. Doch heute ist es ungewöhnlich still. Die meisten Stände sind geschlossen. Ihre Besitzer sind auf einer Protestkundgebung im Zentrum der Hauptstadt, genauso wie Tausende anderer Kleinunternehmer aus allen Regionen des Landes.
Unmut wegen drohender Arbeitslosigkeit
"Wir haben das Recht, in unserem Land frei zu arbeiten. Und dieses Recht wird uns einfach genommen! Wir werden uns unser Geschäft nicht ruinieren lassen", schreit die 42-jährige Swetlana entrüstet in die Menschenmenge. Vor acht Jahren hat sie einen Kiosk gekauft, für umgerechnet 2.000 Euro. Das Geld dafür hat sie sich von einem guten Bekannten geliehen. Kredite für Geschäftsideen werden in Belarus nämlich nicht vergeben. Das Geschäft lief so prächtig, dass Swetlana das geliehene Startkapital schon in kürzester Zeit zurückzahlen konnte. Bis zu 400 Euro hat sie monatlich mit ihrem Kiosk verdient, und das in einem Land, wo das Durchschnittsgehalt bei rund 170 Euro liegt. Davon konnte Swetlana ihre dreiköpfige Familie ernähern.
Das alles kann bald vorbei sein. Zum ersten Januar musste sie ihre beiden Mitarbeiter fristlos entlassen. Nach der neuen Regelung dürften ihre Kinder im Schulalter für sie arbeiten, denn andere Familienmitglieder hat Swetlana nicht. Doch das kommt für die 42-jährige Unternehmerin nicht in Frage. Ihre Rechte versucht sie nun auf der Straße zu erkämpfen: "Im Gesetz steht, dass wir nicht mehr als zwölf Stunden am Tag arbeiten dürfen. Wie kann ich das alleine bloß schaffen? Um die Ware im Lager abzuholen, muss ich meinen Kiosk schließen. Ich darf auch nicht krank werden, wer wird mich sonst vertreten? Miete und Steuern habe ich schon bezahlt, kann aber nicht weiter arbeiten". Ähnlich geht es rund 20.000 Kleinunternehmern. Aufgrund der neuen Regelung sind sie gezwungen, ihre Betriebe zu schließen oder zu verkleinern und darüber hinaus höhere Steuern zu zahlen. Die meisten Geschäftsleute können sich das nicht leisten.
Staatbetriebe bieten keine Arbeitsplätze
Betroffen sind vor allem allein stehende Frauen mit akademischer Ausbildung. Sie mussten ihre ursprünglichen Berufe aufgeben, um ihren Kindern ein würdiges Leben bieten zu können - so wie die Ingenieurin Larissa Kotschergina es gemacht hat: "Früher war ich in der Möbelindustrie tätig, habe neue Modelle entworfen. Der Job war interessant, brachte aber kaum Geld. So beschloss ich, einen Stand auf dem Tagesmarkt zu mieten". Dort verkaufte sie hauptsächlich Obst und Gemüse und verdiente dabei gutes Geld. Seit Anfang dieses Jahres lohnt sich das Geschäft nicht mehr, sagt Larissa. Jetzt zerbricht sie sich den Kopf, wie es weiter gehen soll: "Nach so vielen Jahren kann ich nicht mehr in meinen alten Beruf zurückkehren. Die Angebote auf dem Arbeitsmarkt richten sich vor allem an junge Fachkräfte im Alter unter 30 Jahren. Für mich lohnt es sich nicht mehr, zum Arbeitsamt zu gehen", stellt die 49jährige fest, die auch bereit wäre, für den Staat zu arbeiten.
Doch das scheint nicht möglich zu sein. Nicht zuletzt, weil über 70 Prozent der Staatsbetriebe hoch verschuldet sind und kurz vor der Pleite stehen. Um Kosten zu sparen, werden ihre Mitarbeiter häufig in unbezahlten Zwangsurlaub geschickt. Lukaschenkos Wirtschaftspolitik habe versagt, meint Anatolij Schumtschenko, Vorsitzender der belarussischen Unternehmer-Vereinigung "Perspektive": "Das heutige Regime versteht sehr gut, dass es mit freien Unternehmern nicht konkurrieren kann. Deswegen wird versucht es, sie mit allen Mitteln vom Markt zu verdrängen. So bleibt das gesamte Potential von Kleinbetrieben auf der Strecke. Den meisten Unternehmern bleibt nichts anderes übrig, als Steuern zu hinterziehen und nach besseren Arbeitsbedingungen in benachbarten EU-Ländern zu suchen. Als Folge davon wird immer mehr Kapital das Land verlassen."
Viele Unternehmer sitzen im Gefängnis
Doch anstatt die Auswanderung von Kleinunternehmern zu verhindern, setzt das belarussische Regime sie mit neuen Lizenzvorschriften und Steuerinspektionen immer stärker unter Druck. Bereits bei einem geringen Verdacht werden viele von ihnen verhaftet und zu hohen Geld- oder Freiheitsstrafen verurteilt. Rund 7.000 Unternehmer sitzen landesweit aufgrund von "Wirtschaftsdelikten" im Gefängnis – hauptsächlich wegen Steuerhinterziehung und Schmiergeldzahlungen, heißt es offiziell. Doch in den meisten Fällen steckt mehr dahinter.
Das hat auch Nikolaj Awtuchowitsch in den letzten Jahren am eigenen Leibe gespürt. Im Jahr 2002 hatte er ein Taxiunternehmen gegründet. Alle bürokratischen Voraussetzungen dafür waren erfüllt. Drei Jahre später wurde der Unternehmer wegen Steuerhinterziehung und illegalem Personen-Transport zu dreieinhalb Jahren Freiheitsentzug in einer geschlossenen Anstalt verurteilt. Am vergangenen Freitag (18.1.) wurde er unerwartet frei gelassen: "Wie es dazu kommen konnte, bleibt für mich immer noch ein Rätsel. Allem Anschein nach hat es einen Befehl von oben gegeben. In kürzester Zeit wurden alle notwendigen Papiere vorbereitet und ich konnte das Gefängnis sofort verlassen“.
Der Taxiunternehmer hatte Glück, seine Strafe wurde abgemildert. In den restlichen anderthalb Jahren seiner Strafe muss Nikolaj Awtuchowitsch gemeinnützige Arbeiten in seinem Heimatort verrichten. Obwohl er nicht an Protestaktionen teilnehmen darf, zeigt er sich mit seinen ehemaligen Kollegen solidarisch, denn sie kämpfen nicht nur für ihre Rechte, sondern auch für freie Marktwirtschaft und Demokratie in Weißrussland. Genau davor fürchte sich das diktatorische Regime des Präsidenten Lukaschenko, behauptet Ales Michalevich von der oppositionellen Volkspartei BNF: „Lukaschenko will seine Kontrolle über sämtliche Bereiche behalten. Er will bestimmen, wer Geld aus dem Staatshaushalt erhält und auch wie viel. Jeden, der nach Unabhängigkeit strebt, betrachtet er als einen potentiellen Gegner“. Und diese lässt er am liebsten vor dem Beginn geplanter Protestaktionen einsperren. So wurden auch in den letzten Tagen über fünfzig Aktivisten verhaftet und zu kurzen Haftstrafen verurteilt, damit sie nicht an der Kundgebung teilnehmen können.
Olja Melnik / DW-Belarus