Unter Beschuss
15. August 2018Die Weißhelme sind eine humanitäre Organisation. Die etwa 3.700 Freiwilligen – ehemalige Lehrer, Ingenieure, Schneider und Feuerwehrmänner – ziehen syrische Zivilisten nach Bombenangriffen aus dem Schutt. Im anhaltenden Krieg wird ihnen die Rettung Tausender Menschen zugeschrieben. Zudem deckten sie mithilfe von Videos aus erster Hand Kriegsverbrechen auf. Ihre Arbeit wurde in einer Oscar-prämierten Netflix-Dokumentation verfilmt und die Organisation zweimal für den Friedensnobelpreis nominiert.
Trotz dieser internationalen Anerkennung gibt es ein Gegennarrativ, das durch ein Netzwerk individueller Stimmen vorangetrieben wird. Ihre Ansichten stimmen mit den Positionen Syriens und Russlands überein und haben ein enormes Online-Publikum, unterstützt von prominenten „Alt-Right“-Vertretern, Gastauftritten im russischen Staatsfernsehen und einer Armee von Twitter-Bots.
„Dies ist das Herz der russischen Propaganda. Früher haben sie versucht, die Sowjetunion als Vorbildgesellschaft darzustellen. Jetzt geht es darum, jedes Thema mit so vielen Narrativen durcheinanderzubringen, dass Leute die Wahrheit nicht erkennen, wenn sie sie sehen“, so David Patrikarakos, Autor von „War in 140 Characters: How Social Media is Reshaping Conflict in the 21st Century“.
Die Kampagne zur Diskreditierung der Weißhelme begann zeitgleich mit der russischen Militärintervention in Syrien im Herbst 2015 zur Unterstützung von Präsident Baschar al-Assads Armee.
Die Weißhelme spielen innerhalb Syriens zwei Rollen. Die erste ist ihre Rettungsarbeit, die zweite Rolle ist die Dokumentation dessen, was im Land passiert, mit Hand- und Helmkameras. „Das ist es, was nicht nur das Assad-Regime und russische Behörden verärgert hat, sondern auch viele der Propagandisten, die in ihrem Dunstkreis arbeiten“, sagt Kristyan Benedict, auf Syrien spezialisierter Krisenreaktions-Manager von Amnesty International.
Es war das Filmmaterial der Weißhelme, das den Angriff mit chemischem Kampfstoff in Khan Sheikhoun dokumentierte, bei dem im April 2017 mindestens 83 Menschen getötet wurden. Später folgerten UN-Ermittler für Kriegsverbrechen, dass der Angriff vom syrischen Regime gegen die eigene Bevölkerung ausgeführt wurde.
„Propagandisten erschaffen einen konstruierten Konsens.“
Die russische Propagandastrategie war sehr erfolgreich darin, den Online-Diskurs über die Weißhelme anzuführen. Durch das Bespielen der Algorithmen Sozialer Medien mit einer Flut an Inhalten, angekurbelt durch Bots, unechte Nutzerkonten und ein Netzwerk von Agitatoren, sind Propagandisten in der Lage, einen „konstruierten Konsens“ zu erschaffen, der Randansichten legitimiert.
Fil Menczer, Professor für Informatik an der Indiana University, hat ein Tool namens Hoaxy entwickelt, um die Verbreitung falscher Informationen im Internet zu erfassen. Die Suche nach „White Helmets“ zeigt, dass nur eine Handvoll Quellen Hunderte Berichte über die Organisation generiert hat. „Es ist wie eine Fabrik“, so Menczer.
Die Analytics-Firma Graphika hat jahrelang eine Reihe russischer Desinformations-Kampagnen analysiert, darunter auch die rund um die Macron-Leaks und den russischen Doping-Skandal. In einer Untersuchung im Auftrag der Menschenrechtsorganisation The Syria Campaign fand sie heraus, dass die Muster der 14.000 Twitter-Nutzer, die über die Weißhelme schrieben, „sehr ähnlich“ aussahen und viele bekannte pro-russische Troll-Accounts beinhalteten. Einige dieser Accounts wurden im Zuge der Untersuchung der russischen Einmischung in die US-Wahl stillgelegt.
Um die Propagandamaschine zu verstehen, muss man sich nur anschauen, was passierte, als die Weißhelme ihre Version der „Mannequin Challenge“ posteten. Hierbei handelt es sich um einen viralen Internet-Trend, bei dem Personen mitten in einer Situation „erstarren“ und dies filmen. Die Rettungsgruppe filmte sich bei einer inszenierten Rettung und teilte das Video unter dem Hashtag #MannequinChallenge in Sozialen Medien.
Das Video, das im November 2016 vom Revolutionary Forces of Syria Media Office gepostet wurde, wurde sofort aus seinem Kontext genommen und als Beweis dafür angeführt, dass die Organisation „Krisenschauspieler“ in inszenierten Rettungen einsetze, um die russische und syrische Armee schlecht dastehen zu lassen.
Olivia Solon, The Guardian, London | Adaption Julia van Leuven
„Wir retten Leben“
Fragen an Khaled Khatib, Sprecher der Weißhelme, zu den Vorwürfen bestimmter Medien und Individuen in Sozialen Netzen gegen die Hilfsorganisation.
Welche Gründe stehen hinter der Kampagne?
Als wir begannen, der Bevölkerung zu helfen, indem wir Zivilisten aus den Gefahrenzonen evakuierten, behauptete das syrische Regime, es hätte es auf Terroristen abgesehen. Dies zielt darauf ab, die Realität zu verfälschen und Propaganda zu verbreiten. Das syrische Regime und seine Verbündeten haben 246 unserer Freiwilligen getötet, während diese ihren Job machten: Leben retten. Ziel der Kampagne ist es, das Töten zu legitimieren und Rettungshelfer ins Visier zu nehmen. Also mussten wir unsere Rettungen von Zivilisten dokumentieren. Das war der Beginn unserer Social-Media-Arbeit.
Wie hat die Medienkampagne Ihre Arbeit beeinflusst?
Am Anfang war es aufwühlend. Sie können sich das Gefühl vorstellen: Freiwillige riskieren ihr Leben, um Menschen zu retten, und das Regime nennt sie Terroristen. Leider haben in der Vergangenheit einige Freiwillige die Regeln und Grundsätze der Weißhelme verletzt. Es waren individuelle Vergehen, wir sind sofort gegen sie vorgegangen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir völlig neutral Leben retten. Wir bieten unsere Hilfe allen Syrern an, ohne Diskriminierung.
Welche Unterstützung erwarten Sie von internationalen Institutionen und den Medien?
Von vielen erhalten wir massive Unterstützung, indem sie über Such- und Rettungsoperationen reden und berichten. Wir hoffen, dass die Medien weiterhin die Wahrheit über das veröffentlichen, was in Syrien passiert, und diejenigen entlarven, die für Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung verantwortlich sind. Die internationalen Institutionen sollten hart für Gerechtigkeit in Syrien arbeiten. Denn wir alle glauben, dass wir ohne Gerechtigkeit niemals einen dauerhaften Frieden erreichen werden.
Fragen von Christoph Jumpelt, Leiter Unternehmenskommunikation