Unsere ESC-Favoriten: Eine Vorauswahl
Um erfolgreich zu sein, muss ein Eurovision-Song der Masse gefallen und trotzdem aus ihr herausragen. Jenseits allen Kalküls verraten unsere zwei ESC-Reporter Silke Wünsch und Rick Fulker ihre persönlichen Favoriten.
Silke | Tschechien: Martina Bárta - "My Turn"
Respekt! Eine Jazzsängerin mit einem wundervoll kehligen Timbre - und ihr Song ist eine einfache Soulpop-Ballade mit einer tollen Hookline im Refrain. Er klingt zwar an vielen Stellen so, als habe ich ihn schon mal irgendwo gehört. Vielleicht ist er aber auch deswegen einer meiner Favoriten: In dem Song fühle ich mich einfach zu Hause.
Rick | Portugal: Salvador Sobral - "Amar Pelos Dois" ("Liebe für zwei")
Die helle Stimme wird von sanften Geigenklängen begleitet. Zwischendurch fällt Salvador Sobral durch erratische Bewegungen und verstörende Mimik auf. Es heißt, er kann nicht ohne medizinische Betreuung reisen. Bei dieser geschwungenen und schmachtenden Liebesballade wirkt er überzeugend verwundbar. Er singt das von seiner Schwester Luisa komponierte Lied in seiner Landessprache.
Silke | Finnland: Norma John - "Blackbird"
Eine hinreißende, leise und poetische Ballade. Eine zarte Frauenstimme auf einem grandios zusammengestellten Synthi-Teppich, düster und melodiös. Vielleicht geht "Blackbird" zwischen den anderen überproduzierten Popliedern unter. Damit geht das Duo aber gelassen um. Schließlich war der ESC anfangs gar nicht geplant. Aber jetzt darf man sich auf eine schöne unaufgeregte Performance freuen.
Rick | Belgien: Blanche - "City Lights"
Eingängiger Song, melancholische Harmoniefolgen, dunkle Stimme: Dieser Song um eine Liebe, die zwischen Sein und Nichtsein schwebt, geht unter die Haut. Blanche liefert eine konsistente und konsequente Performance ab, auch wenn die Stimme immer gleich klingt - aber Anderes wäre hier nicht gefragt. Die Botschaft ist konzentriert und unmissverständlich.
Silke | Ukraine: O.Torvald - "Time"
Es ist eine Band! Es sind mehrere Typen! Und: Sie haben laute Gitarren dabei. O.Torvald ist der einzige ESC-Act, in dem es rockt! Wenn auch nur im Refrain. Dennoch haben sie von mir allein deswegen Sympathiepunkte bekommen. Den Rest erledigt die friedvolle Botschaft: "Lasst uns einen Ort finden, an dem es keine Gewalt gibt." Ich wünsche den Gastgebern mit "Time" einen Top 10-Platz.
Rick | Norwegen: Jowst - "Grab The Moment"
Bei so vielen Solo-Acts und Balladen in diesem Jahrgang erfrischt diese Kombination vom Sänger Aleksander Walmann und Joakim With Steen alias Jowst. Das Rezept: schnell gesungener Text, mitreißende Melodie - und eine ausgetüftelte Elektronikbegleitung, die durch sämtliche Klangfarbenpaletten hindurch geht. Gegen Ende gibt es sogar eine schräge Strecke mit Polytonalität. Es lebe die Kreativität!
Silke | Portugal: Salvador Sobral - "Amar Pelos Dois" ("Liebe für zwei")
Als ich diesen Song zum ersten Mal gehört habe, musste ich weinen vor Rührung. Ich muss es immer noch. Das ist eines der schönsten Lieder, die ich jemals beim ESC gehört habe. Ein seidenweiche Jazz-Ballade mit genügend Streichern, um die komplette Halle zum Schmelzen zu bringen. Ein Typ mit Zopf, Gefühl und Stimme und einer eigenwilligen Performance. Meine Nummer 1!
Rick | Frankreich: Alma - "Requiem"
Die Frau ist bildhübsch, der Duktus ihres Liedes trotz des traurigen Themas ansteckend fröhlich. Hauptmelodie und Refrain bleiben im Kopf hängen. Die Auflage des französischen Vorentscheids, mindestens 80 Prozent des Songtextes sollen in der Muttersprache sein, ist ziemlich genau eingehalten worden. Zumindest gibt es beim diesjährigen ESC ein bisschen mehr sprachliche Vielfalt.
Silke | Belgien: Blanche - "City Lights"
Wow. Die erst 17-jährige Blanche singt sich mit einer fast gleichgültig wirkenden tiefen Stimme durch einen düsteren Elektropopsong. "City Lights" ist cool, reduziert und dennoch treibend, absolut faszinierend. Auf der Bühne in Kiew braucht Blanche keinen Schnickschnack. Sie braucht nur Raum. Belgien hat in den letzten Jahren immer gutes Zeug geliefert. Es wird Zeit für viele 12-Punkte!
Rick | Deutschland: Levina - "Perfect Life"
Song und Sängerin wurden beide in einem ausgetüftelten Verfahren vom deutschen Fernsehpublikum mit europäischer Beteiligung ausgesucht. Kann also nach den deutschen ESC-Desastern der vergangenen zwei Jahre diesmal nichts schiefgehen, oder? Abgesehen von der Mehrheitsfähigkeit des Liedes hat die Sängerin Potential. Levinas Stimme ist sehr differenziert - und sie strotzt vor Professionalität.