"Unsere Einheit ist gescheitert" - eine jemenitische Perspektive
18. Januar 2011Ich weiß noch, wie beeindruckt wir waren von den Fernsehbildern aus dem fernen Deutschland: DDR-Bürger stürmten über Grenzübergänge, Deutsche aus Ost und West lagen sich glücklich in den Armen - das alles verfolgten wir Jemeniten mit großem Staunen und aufrichtiger Bewunderung. Denn irgendwie hatte es auch mit uns zu tun. Auch wir waren ja ein zweigeteiltes Volk - wenngleich die Konstellation etwas anders ausfiel als in Deutschland.
Der eine Staat war sozialistisch, aber relativ liberal - der andere zwar pro-westlich, aber gesellschaftspolitisch sehr konservativ, besonders was die Rolle der Frauen betrifft. Zugleich jedoch gehörten beide jemenitische Staaten jeweils denselben weltpolitischen Blöcken an wie das alte Westdeutschland und die DDR: Die Demokratische Volksrepublik Jemen im Süden war mit Moskau liiert, die Arabische Republik Jemen im Norden mit Washington.
Vorbild Berlin
Trotz dieser Unterschiede empfanden wir viel Respekt für die Deutschen: Respekt dafür, dass die Bürger ohne Angst vor Gefahren das Heft in die Hand nahmen und selbst Geschichte machten. Und natürlich suchten nicht nur wir Bürger nach Parallelen, sondern auch unsere Politiker, die sich von den Ereignissen in Deutschland zum Handeln gedrängt sahen. Auf beiden Seiten der inner-jemenitischen Grenze wurde sie von den Machthabern als Signal empfunden, dass die Großmächte nun auch im Jemen einen anderen Kurs anstreben würden. Und so handelte man rasch: Bereits drei Wochen nach dem Berliner Mauerfall wurde 1989 ein Abkommen über die Wiedervereinigung des Jemen unterzeichnet. Zwei Jahre standen dafür zur Verfügung - doch ähnlich wie in Deutschland gingen die Dinge auch im Jemen schneller als geplant: So wurde die Einheit des Landes offiziell bereits am 22. Mai 1990 verkündet.
Unsere damaligen Gefühle waren denen der Deutschen sicher sehr ähnlich. Es war wie ein Traum: Wir konnten kaum glauben, dass wir endlich wieder ein Volk sind – zeitlich sogar noch vor den Deutschen! Die patriotischen Emotionen waren so überschwänglich, dass die Menschen wochenlang auf den Straßen feierten. Der jemenitische Staatspräsident Ali Abdullah Saleh ging in seinem Übermut sogar soweit, den Deutschen "Hilfe" in Sachen Wiedervereinigung anzubieten.
Vereinigung "von oben"
Doch auch wenn die Begeisterung der Menschen echt war – faktisch erfolgte die jemenitische Einheit auf Beschluss "von oben": Zwei totalitäre Staatsführungen gründeten einen neuen gemeinsamen Staat und teilten sich die Posten. Anders als in Deutschland, wo sich einer von zwei Staaten quasi in Luft auflöste und dem Grundgesetz des freieren und moderneren Nachbarn unterordnete, entstand im Jemen eine neue Republik mit faktisch zwei Führungen und sogar zwei Armeen - was schon wenig später zu einem Kriegsausbruch zwischen beiden Seiten führte.
Mein Geburtsland hat seitdem eine schwere Krise nach der anderen erlebt. Von einer "inneren Einheit" kann bis heute nicht die Rede sein - vielmehr herrschten immer wieder kriegsähnliche Zustände im Süden, ebenso handfeste Unabhängigkeitsbestrebungen, die von den alten Kräften des Nordens mit aller Macht bekämpft werden. Als die Führung im Süden einmal ankündigte, sie wolle die Wiedervereinigung offiziell wieder rückgängig machen, drohte Präsident Saleh sogar mit der Formel "Einheit oder Tod". Man stelle sich einmal vor, Helmut Kohl hätte so etwas jemals gegenüber ehemaligen DDR-Bürgern gesagt! Kohl sprach zwar etwas unvorsichtig von "blühenden Landschaften" und konnte dieses Versprechen nicht einhalten. Aber er hätte sicherlich nie gesagt, was Ali Abdullah Saleh einmal drohend über die jemenitische Einheit formulierte: "Vor neun Monten war sie schwanger - jetzt ist die Zeit gekommen, zu gebären. Und es wird entweder ein gesundes oder ein krankes Kind."
Zwischen Koma und Krise
Auf eine zynische Weise sollte er damit sogar Recht behalten. Die jemenitische Einheit - sie ist wirklich wie ein krankes Kind. Und sie ist – jedenfalls einstweilen – gescheitert. Die Machthaber in der ehemaligen südjemenitischen Hauptstadt Aden wurden mit Waffengewalt zum Einlenken und damit auch zur politischen Unterwerfung und zur Akzeptanz der staatlichen Einheit gezwungen. Umgekehrt flogen Scud-Raketen der Unabhängigkeitskräfte aus dem Süden bis zu uns nach Sanaa. Einmal wären wir fast von einem solchen Geschoss getroffen worden – nur um Haaresbreite kamen meine Familie und ich mit dem Leben davon. Ich war tief schockiert und weiß noch, wie ich zu meiner Frau sagte: "Ich will keine Einheit, die Menschenleben tötet!"
All dies ist der Grund dafür, dass ich die Feiern zur deutschen Einheit mit einem lachenden und leider auch einem weinenden Auge verfolge. Ich freue mich für die Deutschen und ihr Glück, ich fühle und feiere mit ihnen! Aber es macht mich zugleich traurig, dass die Einheit meines Geburtslandes gefährlich zwischen Koma und Krise wankt und jederzeit wieder in Krieg münden könnte. Die Einheit des Jemen existiert leider nur auf dem Papier. Nicht in den Herzen.
Autor: Abdo Al-Mikhlafy
Redaktion: Dеnnis Stutе