Undercover in Auschwitz
18. Februar 2014Es gibt Menschen, deren Lebensgeschichte einem Film zu entstammen scheint. Witold Pilecki war so ein Mensch. Sein Leben verlief wie eine Heldensage – und endete als Tragödie. Doch der Reihe nach: Schon als Jugendlicher kämpft Pilecki für einen polnischen Staat, wird später Soldat. Als der Zweite Weltkrieg 1939 beginnt, dient er in der Kavallerie. Doch die polnische Armee hält der deutschen Übermacht nicht lange stand. Nach dem Fall Warschaus geht Pilecki in den Untergrund. Mit anderen Soldaten gründet er die Polnische Heimatarmee.
Im Sommer 1940 kommen erste Gerüchte auf, die Deutschen hätten ein Straflager in Schlesien errichtet. Pilecki bewirbt sich dafür, das Lager auszuspionieren. Noch im September 1940 begibt er sich freiwillig in eine Razzia in Warschau. Zusammen mit ihm bringt man hunderte Menschen in Waggons nach Auschwitz. Pilecki ist am Ziel.
Auschwitz ist zu diesem Zeitpunkt noch kein Vernichtungslager, und dennoch sterben hier täglich gewaltsam Menschen. Weil sie zu Tode geprügelt, gefoltert oder hingerichtet werden, weil sie an Erschöpfung, Hunger, Typhus sterben. Kaum im Lager angekommen, hört Pilecki die Ansage eines SS-Oberen aus dem Lautsprecher: "Dass sich keiner von euch einbildet, er kommt hier lebend wieder heraus. Ihr sollt sechs Wochen lang überleben. Wer länger lebt, muss ein Dieb sein, und Diebe kommen in die Strafkompanie, wo sie garantiert nicht mehr lange leben."
In geheimer Mission
Hier, in diesem Konzentrationslager am Rande der polnischen Kleinstadt Oświęcim, dessen Namen im Jahr 1940 noch kaum jemand kennt, baut Pilecki eine Untergrundorganisation auf. Im Laufe der Zeit wächst sie auf mehr als tausend Mitglieder an. Sie besetzt Posten in allen Teilen des Lagers.
Über Kuriere schmuggelt Pilecki erste Berichte nach draußen. Seine Nachricht von einem Todeslager im Süden Polens erreicht Ende 1940 Warschau. Im Frühling 1941 lesen auch die Alliierten in London, was in Auschwitz vor sich geht. Doch kaum einer will diesem ersten Bericht eines Augenzeugen des Lagers glauben – zu unwirklich erscheint das Geschilderte. Deutsche töten sadistisch, geplant und massenweise Menschen in einem Lager? Im Jahr, in dem die "Endlösung", die Vernichtung der europäischen Juden, beschlossen wird, halten die Alliierten das für unmöglich. Wenige Monate später beginnt der Bau von Birkenau, dem Vernichtungslager Auschwitz II, gleich neben dem Stammlager Auschwitz I. Schon bald sollten in Auschwitz-Birkenau täglich tausende Menschen in Gaskammern ermordet werden.
Unterdessen wird Pileckis Organisation immer kleiner. Wer nicht vor Schwäche umkommt, wird vor der "Todeswand" erschossen. "Das Netz zerriss immer wieder und musste ständig repariert werden", schreibt Pilecki. Auch er selbst erkrankt mehrfach, kann aber von Sanitätern, die seiner Widerstandsgruppe angehören, gerettet werden. Pilecki hofft auf den Befehl, von Innen im Lager einen Aufstand anzuzetteln, während ein gleichzeitiger Angriff von Außen das Lager befreien würde. Doch ein solcher Befehl wird nie erteilt. Weder von den Alliierten, noch von der polnischen Heimatarmee.
Am 26. April 1943, nach 947 Tagen in Auschwitz, gelingt Pilecki gemeinsam mit zwei Mitgefangenen das Unmögliche: die Flucht aus Auschwitz. Die Widerstandsorganisation ist innerhalb und außerhalb des Lagers gut vernetzt, verschafft ihm genaueste Kenntnis über Wachablösungen, Kontrollposten, besorgt gefälschte Papiere und ein Versteck in Krakau. Und er hat viel Glück.
Bericht über den Holocaust
Nach der Flucht verfasst Pilecki einen ausführlichen Bericht, dessen erweiterte Fassung erst 2013 auf Deutsch erschienen ist. "In Birkenau", schreibt Pilecki, "werden ganze Menschentransporte vergast, die mit Zügen und Autos angeliefert werden - manchmal einige tausend täglich. Vorwiegend Juden." Auch dieser Bericht erreicht die Alliierten. Und doch muss Pilecki – ähnlich wie der polnische Widerstandskämpfer Jan Karski, der ins Warschauer Ghetto geschmuggelt wird und später sogar US-Präsident Roosevelt persönlich berichtet – feststellen, dass nichts passiert. Ihre Schilderungen werden lange als Übertreibungen eingestuft. Keiner kommt zu Hilfe. Auschwitz wird erst im Januar 1945 befreit, nachdem mehr als eine Million Menschen dort umgebracht worden sind.
Pilecki überlebt Auschwitz und den Krieg. Und doch stirbt er wenig später eines gewaltsamen Todes – wenn auch nicht von deutscher Hand. Weil er Material über kommunistische Verbrechen in Polen sammelt, nimmt ihn der polnische Geheimdienst 1947 fest. Pilecki wird gefoltert und in einem Schauprozess zum Tode verurteilt – wegen "feindlicher Spionage". Man wirft seine Gebeine in ein Massengrab, zerstört sein Haus und verbietet, auch nur über seine Taten zu sprechen.
Ein Gerechter unter den Völkern?
Erst nach dem Fall des Kommunismus wird Pilecki rehabilitiert. "In seiner Person spiegelt sich der ganze Horror des 20. Jahrhunderts wider", sagt der Oberrabbiner von Polen, Michael Schudrich. "Pilecki überlebte die deutschen Faschisten – und starb dann durch sowjetische Kommunisten." Heute gilt er als Nationalheld Polens, postum geehrt mit den höchsten Orden des Landes.
Wäre er nicht der Inbegriff eines "Gerechten unter den Völkern", eines Menschen, der Juden unter Einsatz seines Lebens zu retten versuchte? "Uns liegen keine Dokumente zu ihm vor", sagt Estee Yaari, Sprecherin der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. "Bisher hat niemand Pilecki als 'Gerechten' vorgeschlagen." Man sei aber über jeden Hinweis dankbar, betont Yaari. Ob Pilecki denn gute Chancen habe? Darüber wolle sie nicht spekulieren, sagt sie.
Für Rabbi Schudrich steht Pileckis Eignung für den Ehrentitel außer Frage. "Pilecki hat sein Bestes gegeben, um den Holocaust zu stoppen und sein Wissen über den Holocaust in die Welt zu tragen." Ein Held wäre er deshalb auch ohne weltliche Orden, sagt Schudrich. "Als Gott den Menschen geschaffen hat, hat er sich vorgestellt, dass wir alle wie Witold Pilecki werden."