Kriegstrauma und Traum von der Heimkehr
1. Mai 2022Das Kinderheim Nr. 1 im zentralpolnischen Lodz hat schon lange nicht mehr so viele Bewohner gesehen. Ende Februar lebten hier nur noch eine Handvoll polnischer Kinder, sie belegten die Zimmer im zweiten Stock. Doch seit Anfang März wohnen im Erdgeschoß und in der ersten Etage zusätzlich 41 junge Ukrainer. Sie stammen aus zwei Kinderheimen in der westukrainischen Stadt Kowel.
An Nachmittagen füllt sich der Innenhof mit ukrainischen Kindern, die auf Fahrrädern und kleinen Scootern fahren. Aus einem Fenster im Erdgeschoß ertönt oft Gesang, und wenn Kiras Stimme erklingt, wird es ruhig im Hof. "Ich war fünf Jahre auf der Musikschule. Nach diesem Schuljahr, also nach der neunten Klasse der Grundschule, wollte ich eine Dirigentenausbildung beginnen, um in Zukunft meinen eigenen Kirchenchor zu haben. Ich möchte Kindern das Singen beibringen", erzählt die 14-Jährige der DW.
Der Krieg hat ihre Träume vorerst zunichte gemacht. Kira hofft zwar auf eine baldige Heimkehr und darauf, dass sie die Dirigentenausbildung in ihrem Land doch noch antreten kann. Doch im Moment gilt es, den neuen Alltag zu meistern.
Die Flucht vor dem Krieg
Kira zählt zu den Älteren in der Gruppe und ist groß genug, sich an der Seite ihrer Erzieherin Galina Jovik um die kleineren Kinder zu kümmern. Beide sagen, dass die Evakuierung aus Kowel vor allem wegen der kleinen Kinder notwendig geworden sei. "Wir hatten oft Luftalarm, alle zwei Stunden mussten wir nachts in den Keller. Jedes Mal die Kinder wecken, anziehen, dann wieder hoch, wieder ausziehen, wieder hinlegen. Das war schwer. So beschlossen wir, direkt im Keller zu übernachten", sagt die 50-jährige Jovik.
Doch nach zwei Nächten im Keller, mit heulenden Sirenen, die den Kindern das Schlafen unmöglich machten, akzeptierte sie das Angebot des ukrainischen Ministeriums für Sozialpolitik, das Kinderheim zu evakuieren. Sie nahm auch ihren 6-jährigen Enkelsohn Artjom mit, weil ihre Tochter, ebenso wie ihr Bruder, beim Militär ist. Jetzt betreut Galina in Lodz eine Gruppe von 20 Kindern im Alter von drei bis 16 Jahren. Eine zweite Gruppe besteht aus 21 Kindern mit Behinderungen, die aus einem anderen Heim der Region Kowel stammen.
NGOs sind schneller als Behörden
Die Unterkunft wurde von der Nichtregierungsorganisation "Happy Kids" organisiert, die sich in Polen seit 20 Jahren um Waisenkinder und Pflegefamilien kümmert. Auch in der Ukraine ist sie gut vernetzt. "Wir haben uns gleich am Anfang des Krieges mit unseren ukrainischen Partnerorganisationen und den ukrainischen Behörden in Verbindung gesetzt. Insgesamt haben wir bisher 1500 ukrainische Kinder nach Polen evakuiert und sie an zehn verschiedenen Orten untergebracht", sagt Przemyslaw Macholak von "Happy Kids" der DW. Es sei ein großer Vorteil der NGOs, dass sie viel schneller als die Behörden auf Krisensituationen reagieren könnten.
"So wie sich diese tragische Situation entwickelt, wird es immer mehr Kinder geben, die in diesem Krieg ihre Eltern verlieren. Wir werden versuchen, auch diesen Kriegswaisen zu helfen", fügt Izabela Kartasinska von "Happy Kids" hinzu.
Kinder-Moloche als Zufluchtsort
Seit einiger Zeit ist in Polen eine Reform im Gange, um die ehemaligen großen Kinderheime abzuschaffen. So wurden in den vergangenen Jahren fast 80 Prozent der Kinder an Pflegefamilien übergeben. Deshalb gibt es in den Kinderheimen so viele freie Plätze, die jetzt den ukrainischen Kindern zur Verfügung gestellt werden können. "Wir haben seit 20 Jahren darum gekämpft, diese Moloche abzuschaffen. Wir wollten leere Kinderheime. Dass sie sich jetzt wieder füllen, ist zwar ein Witz der Geschichte, doch nun dienen sie zum Glück einem guten Zweck", sagt Kartasinska.
Inzwischen sind nicht nur die NGOs am Werk, sondern auch die polnischen Behörden. Seit Mitte März müssen alle Kinder aus den ukrainischen Kinder- und Waisenheimen in der dazu geschaffenen Registrierungsstelle in Stalowa Wola, 150 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt, registriert werden. Von dort aus werden sie an ehemalige Kinderheime, aber auch an Erholungsheime verteilt. Auf diese Weise wurden in Polen bislang mehr als 4000 von rund 90.000 ukrainischen Heimkindern aufgenommen. Da sie zumeist ohne ihre rechtlichen Betreuer über die Grenze gekommen sind, wurde laut Gesetz vom März 2022 eine neue Institution, der "temporäre Vormund", geschaffen. Die polnischen Gerichte sind verpflichtet, über den temporären Vormund innerhalb von drei Tagen zu entscheiden.
Kinder im Kriegsschock
Zurück im Kinderheim Nr. 1 in Lodz. Hier findet inzwischen Unterricht auf Ukrainisch statt. Die Kinder im schulpflichtigen Alter gehen zwar in eine polnische Schule, doch die Erzieherin Galina Jovik sorgt dafür, dass sie dennoch nicht ganz aus dem ukrainischen Schulsystem herausfallen. Wie alle anderen Ukrainer hier hofft auch sie auf eine baldige Heimkehr. Außerdem sei die vertraute Alltagsroutine wichtig, um den Kriegsschock, den ihre Schützlinge erlebt haben, so weit wie möglich zu lindern, erklärt sie.
"Das Wichtigste ist, den Kindern die Wahrheit zu sagen. Sie fühlen unsere Nervosität, unsere Anspannung. Und wenn du etwas verheimlichst, dann fühlen sie sich betrogen. Das werden sie dir nie verzeihen", so Jovik. Trotzdem habe sie bei der Evakuierung ihren kleinen Schützlingen nichts vom Krieg erzählt, sondern, dass sie in die Ferien fahren würden, um neue Freunde kennenzulernen. Jetzt bereiten sich die Kinder auf die Rückkehr vor: "Wir sprechen zum Beispiel davon, dass es dort noch schöner sein wird als zuvor. Wir machen es auf eine spielerische Art und Weise."
Beten für den Frieden
Für die älteren Kinder wie Kira bleibt jedoch der Krieg das Hauptthema. "Es ist erschreckend, was jetzt in der Ukraine passiert. Die Russen ... Ich habe keine Worte dafür, was sie machen. Sie schießen und töten sogar kleine Kinder", sagt sie mit Tränen in den Augen. Singend betet sie jeden Tag für den Frieden. Es wird still im sonst lauten Korridor, wenn aus ihrem Zimmer ein Psalm des Matthäus-Evangeliums ertönt: "Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden." Kira glaubt fest daran, dass die Ukraine siegen wird: "Wir werden alle Schlachten überstehen. Wir sind ein friedliches Volk. Und nicht wir waren es, die diesen Krieg angefangen haben."