Ukraine: Strafen für "Wahlen" in den besetzten Regionen
8. September 2023Wegen Angriffs auf die territoriale Integrität der Ukraine hat der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) die Leiterin der Zentralen Wahlkommission der Russischen Föderation, Ella Pamfilowa, ihren Stellvertreter Nikolaj Bulajew und die Sekretärin der Kommission, Natalja Budarina, am 1. September unter Verdacht gestellt. Für die Organisation von Pseudo-Wahlen durch die russische Besatzungsverwaltung in den Gebieten Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson droht der SBU der Führung der russischen Zentralen Wahlkommission mit lebenslanger Haft und der Beschlagnahme von Eigentum.
"Pamfilowa unterstützt die oberste militärisch-politische Führung Russlands bei der 'Legalisierung' des Besatzungsregimes in den vorübergehend besetzten Gebieten... Die nächste Aufgabe der Angeklagten besteht darin, die Ergebnisse der Pseudo-Wahlen vollständig zugunsten der Marionetten, der vom Kreml aufgestellten 'Kandidaten', zu fälschen", heißt es in einer Mitteilung des SBU, der erstmals der russischen Zentralen Wahlkommission vorwirft, auch am Pseudo-Referendum über den Anschluss der besetzten Gebiete zur Russischen Föderation beteiligt gewesen zu sein.
Abstimmung mit vorgehaltener Waffe
Am sogenannten einheitlichen Wahltag, dem 10. September, finden in ganz Russland Wahlen zu regionalen Parlamenten sowie zu Gemeinde- und Landräten statt. Doch in den Teilen der von Russland besetzten vier Regionen der Ukraine ziehen sich die "Wahlen" schon mehr als eine Woche hin. In Ortschaften an vorderster Front haben die Mitglieder "mobiler Wahlkommissionen" am 31. August begonnen, Privathaushalte aufzusuchen. Wie der SBU-Sprecher Artem Dechtjarenko der DW sagte, sollen die Menschen im Beisein bewaffneter Vertreter der Besatzungspolizei "ihre Stimme abgeben".
Um den Anschein eines "Wahlverfahrens" zu erwecken, habe der Kreml seinen Vertretern befohlen, für eine maximale Wahlbeteiligung zu sorgen. "In Berdjansk zum Beispiel zwingen die russischen Invasoren und ihre Handlanger die Chefärzte medizinischer Einrichtungen, ihr ganzes Personal anzuweisen, sich an den Fake-Wahlen zu beteiligen", so Dechtjarenko. Er fordert die Bürger der Ukraine auf, "nicht an einer gefälschten Volksabstimmung teilzunehmen und somit nichts zugunsten des Aggressors zu tun".
Genau wie bei den Pseudo-Referenden im Jahr 2022 über den Anschluss der Gebiete an die Russische Föderation versichern die ukrainischen Behörden, Menschen nicht dafür zu bestrafen, dass sie "abgestimmt" haben, insbesondere wenn sie dies unter vorgehaltener Waffe tun mussten. Aber eine aktive Teilnahme, wie die Arbeit in lokalen "Wahlkommissionen", die Kandidatur für einen Posten in den Besatzungsbehörden oder die Rolle eines "Wahlbeobachters", betrachtet Kiew als schwere Straftat.
Zehntausende potenzielle Verdächtige
Bis zum 31. August ist es dem SBU gelungen, mehr als 3500 "aktive Teilnehmer" an den illegalen "Wahlen" in den vier Regionen namentlich zu identifizieren. Konkrete Vorwürfe haben die Ermittler - außer gegen die Führung der russischen Zentralen Wahlkommission - noch gegen niemanden erhoben. Kiew versichert aber, dass weiterhin alle "kriminellen Aktivitäten dokumentiert" würden, sowohl seitens russischer Bürger, was als Angriff auf die territoriale Integrität der Ukraine gilt, und auch seitens ukrainischer Bürger, was als Kollaboration bewertet wird.
Offenbar sind aber sieben- bis zehnmal mehr Menschen in die illegalen "Wahlen" involviert, als der SBU bisher ermittelt hat. So sind nach Angaben der Besatzungsbehörden allein in der Region Luhansk 5260 Personen als Mitglieder von "Wahlkommissionen" verschiedener Ebenen an der Organisation der Pseudo-Wahlen beteiligt. 336 Kandidaten kandidieren für die "Regionalduma" und 3241 weitere Kandidaten für 28 "Kommunalräte". Insgesamt geht es um 8800 Menschen allein in einer Region, und dies ohne Berücksichtigung der "Wahlbeobachter". Es wird jedoch nicht einfach sein, alle Teilnehmer an den Pseudo-Wahlen zu identifizieren, da die "Wahlkommissionen" aus Sicherheitsgründen weder zu ihren Mitgliedern noch zu Kandidaten Angaben machen dürfen.
Bisher kaum wirkliche Verurteilungen
Wie die Erfahrungen mit den Ermittlungen zu früheren illegalen Abstimmungen gezeigt haben, ist nicht mit schnellen Verurteilungen Zehntausender potenzieller Angeklagter zu rechnen. So wurden laut einer Studie der ukrainischen Nichtregierungsorganisation "Opora" in acht Jahren nur 288 Teilnehmer der Pseudo-Referenden, die im Frühjahr 2014 auf der Krim und im Donbass stattfanden, verurteilt. Die überwiegende Mehrheit von ihnen erhielt wegen des Angriffs auf die territoriale Integrität lediglich Bewährungsstrafen.
Doch im Herbst 2022 wurden die Organisatoren der "Referenden über den Beitritt der Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson" von den ukrainischen Strafverfolgungsbehörden nach einem neuen Artikel des Strafgesetzbuches angeklagt. Demnach wird nun die Durchführung einer illegalen Abstimmung mit der Tätigkeit für die Besatzungsbehörden gleichgesetzt und mit fünf bis zehn Jahren Haft bestraft.
Die Pseudo-Referenden waren von den russischen Behörden in aller Eile organisiert worden, nach Angaben von Gesprächspartnern der DW beteiligten sich unter den damaligen Bewohnern der besetzten Gebiete deutlich weniger Menschen an ihrer Vorbereitung als an den "Wahlen" in diesem Jahr. Ihre persönlichen Daten wurden häufig von lokalen Widerstandsbewegungen veröffentlicht, sodass die ukrainischen Behörden vor und nach den "Abstimmungen" regelmäßig Dutzende, sogar Hunderte von Verdächtigen melden konnten.
Elf Monate später gelang es der DW, im Staatlichen Register der Gerichtsentscheide rund 80 Urteile gegen Organisatoren der Abstimmungen zu finden - was ein Zehntel aller Urteile ist, die bereits wegen Kollaboration gefällt wurden. Laut Statistiken der Generalstaatsanwaltschaft wurden landesweit fast 6200 Strafverfahren wegen Kollaboration eröffnet. Wie viele davon die "Abstimmungen" in den besetzten Gebieten betreffen, ist unklar.
Ausnahmslos alle von der DW untersuchten Urteile gegen Teilnehmer der Pseudo-Referenden sind Verurteilungen. Etwa die Hälfte davon wurde in Abwesenheit gesprochen, denn während des Krieges dürfen Fälle von Kollaboration ohne Beteiligung des Angeklagten geprüft werden, wenn die Ermittlungen ergeben, dass die betreffende Person sich in den besetzten Gebieten befindet. In solchen Fällen verhängen die Gerichte die Höchststrafe von zehn Jahren Haft mit Beschlagnahme des Eigentums.
Unter denjenigen, die persönlich vor Gericht standen, überwiegen Bewohner des rechten Ufers der Region Cherson. Das Gebiet wurde etwas mehr als einen Monat nach dem Pseudo-Referendum befreit. Seitdem haben sich etwa 20 Mitglieder von "Wahlkommissionen", meist Frauen im Vorruhestands- und Rentenalter aus Dörfern im Norden der Region, schuldig bekannt und so eine minimale, aber immer noch schwere Strafe erhalten, und zwar fünf Jahre Gefängnis.
Wahllokale werden zu Angriffszielen
Der SBU verspricht, alles zu tun, um alle Verantwortlichen für die illegalen Abstimmungen zur Verantwortung zu ziehen. Den Teilnehmern der Pseudo-Wahlen droht aber nicht nur jahrelange Strafverfolgung. In der vergangenen Woche waren Einrichtungen, die im Zusammenhang mit den bevorstehenden "Wahlen" stehen, mindestens zweimal Ziel von Angriffen - beispielsweise am 29. August das Hauptquartier der russischen Führungspartei Partei "Einiges Russland" in Nowa Kachowka. Und am 30. August berichteten mehrere ukrainische Medien unter Berufung auf Quellen des SBU über einen Drohnenangriff auf ein "Wahllokal" in der Stadt Kamjanka-Dniprowska in der Region Saporischschja.
Vor den Pseudo-Referenden im vergangenen Jahr hatten russische Sicherheitskräfte in fast allen großen besetzten Städten angekündigt, "Sabotagetrupps aufzudecken und Terroranschläge zu verhindern". Der ukrainische Geheimdienst bestritt solche Absichten und warf den Russen Repressionen gegen die Menschen in den besetzten Gebieten vor.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk