Ukraine: Lichtblicke am grauen Horizont
18. Februar 2019Orest Davidkos Ware ist wenige Zentimeter lang und trägt ein spiralförmiges Gehäuse auf dem Rücken. Der Landwirt und Gründer der Firma 'Tante Snails' bittet in ein Gewächshaus, einen halben Hektar misst das Gesamtareal nahe Lemberg in der Westukraine. Knarrend fällt die Metalltür zu, eine seichte Schwüle durchzieht den Innenraum. Rasengrüne Netze mildern das einstrahlende Sonnlicht ab. "So verhindern wir, dass unsere Schnecken zu viel Sonne abbekommen", erklärt Davidko, "25 Grad sind ideal."
In den Beeten reihen sich rechteckige Bretter aneinander. Auf deren Unterseite wimmelt es von Schnecken. "Sie wachsen noch", so Davidko, 'Kindergarten' wurde dieser Bereich getauft. Erst später reifen die Schnecken im Freien endgültig heran. Nach neun Monaten landen sie auf den Tellern des firmeneigenen Restaurants oder im Lieferwagen auf dem Weg zu den Kunden.
Eine wachsende Nische - dank EU-Abkommen
Dazu gehören bisher heimische Gastronomiebetriebe und Supermärkte. Bald sollen auch Partner aus der EU hinzukommen. Das Schnecken-Business ist in der Ukraine eine kleine, aber wachsende Nische. 400 Tonnen der Weichtiere wurden 2018 in die EU exportiert, ganze drei Tonnen waren es noch fünf Jahre zuvor. Dem Anstieg hat das Freihandelsabkommen Kiews mit Brüssel von 2016 maßgeblich den Weg geebnet: eine Folge der Maidan-Umstürze.
Auch 'Tante Snails' soll davon profitieren. Marketingchefin Nastya Vinokurova sieht Wachstumspotenzial: "Der Bedarf an Schnecken ist in Europa konstant hoch, vor allem im Süden. Wir glauben, dass wir 40 Prozent davon abdecken können." Dieses Jahr, so Vinokurova, wolle man im Exportgeschäft mitmischen, mit 100 Tonnen Schnecken aus eigener Zucht, zum Preis von sechs Euro je Kilogramm. Man behalte aber auch das zweite Ziel im Auge - Speiseschnecken zum Massenprodukt in der Heimat zu machen. "Für viele hier ist das noch ungewöhnlich. Schnecken sind aber proteinreich und können vielfältig zubereitet werden. Wir merken, dass immer mehr Ukrainer sich dem öffnen."
Einen neuen wirtschaftlichen Impuls glaubt auch Anna Lukovkina gesetzt zu haben. Die Modefachfrau empfängt in ihrem Büro zum Gespräch, in Jogginghose und Kapuzenpullover. Lukovkina ist Inhaberin des Kleidergeschäfts 'Vsi Svoi'. Auf Deutsch heißt das in etwa „All Unser". Der Name ist kein Zufall: Im Kaufhaus im Kiewer Herzen sind ausschließlich ukrainische Waren erhältlich. „Lokale Marken haben heute einen guten Ruf. Ich denke, wir haben eine Art Paradigmenwechsel herbeigeführt", sagt Lukovkina nicht ohne Stolz.
Ein patriotischer Boom
Auf den fünf Etagen von „Vsi Svoi" hängen mit traditionellen Stickmustern bedruckte T-Shirts und schlichte, einfarbige Mäntel. Zu erwerben sind aber auch Schuhe, Armbänder und Taschen. Die Preise variieren zwischen zehn und mehr als 200 Euro. Die Kollektionen stammen aus der Hand von rund 250 ukrainischen Designern. "Wir haben für sie einen Sammelort geschaffen, das war die Grundidee", erläutert Anna Lukovkina. "Damit sind ukrainische Marken räumlich nicht mehr so zerstreut wie früher."
Früher - das heißt rund um den Maidan. Damals habe das Land eine patriotische Welle erfasst, erinnert sich Lukovkina. "Plötzlich fingen die Leute an, Shirts mit ukrainischen Nationalsymbolen zu tragen." Daraus habe sich eine ganze Moderichtung entwickelt. Das sieht Elena Besedina ähnlich. Die Ökonomin spricht von einem Boom lokaler und regionaler Produkte seit 2013. "Kleidung ist ein Beispiel. Aber auch Honig und Milch aus ukrainischer Produktion sind wesentlich populärer geworden", erläutert Besedina.
Konflikt mit Russland hinterlässt Spuren
Der wachsende Binnenkonsum folgt ebenso einer ökonomischen Notwendigkeit. Nach Russland, jahrelang wichtigster Handelspartner, exportiert die Ukraine ihre Lebensmittel aufgrund eines Embargos nicht mehr - auch das ein Erbe des 'Euromaidan', wie die Bürgerproteste von 2013 genannt werden. Nüchtern betrachtet hat dieser der ukrainischen Wirtschaft bisher geschadet. Das Bruttoinlandsprodukt lag 2017 bei 112 Milliarden US-Dollar - ein Rückgang um 38 Prozent seit 2013. Ein monatliches Durchschnittseinkommen von nur 270 Euro dämpft lässt den Menschen nicht viel übrig für Konsum. Und auch beim Handel mit der EU sieht Ökonomin Besedina noch Luft nach oben: "40 Prozent ukrainischer Waren gehen bereits in die EU, an erster Stelle Eisen und Stahl. Der Lebensmittelsektor etwa tut sich mit den dortigen Standards aber noch schwer." Notwendig sei es, weiter in neue Technologien zu investieren. Milchbauern rät Besedina zudem, sich öfter zu Genossenschaften zusammenzuschließen.
Angesichts dessen erscheinen Firmen wie 'Tante Snails' und 'Vsi Svoi' wie Ausnahmeerscheinungen. Bei beiden überwiegt dennoch die Zuversicht. "Im Schneckengeschäft haben wir das Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft", sagt Nastya Vinokurova und hofft auf weitere Mitbewerber, um den Markt zu stimulieren. Anna Lukovkina von 'Vsi Svoi' setzt auf den Unternehmergeist ihrer jungen Landsleute. "Es gibt viel Kreativität hier im Land", schwärmt sie. Das mache ihr Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Den widrigen Umständen zum Trotz.