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Politik

Krieg und Atomkraft: Was das Völkerrecht sagt

18. August 2022

Saporischschja, Europas größtes Kernkraftwerk, könnte zum Ziel russischer oder ukrainischer Angriffe werden. Laut Genfer Abkommen wäre dies unter bestimmten Umständen nicht verboten.

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Ukraine-Krieg Saporischschja Atomkraftwerk
Das Kraftwerk am unteren Dnjepr hat sechs Reaktoren und liefert 5700 Megawatt, mehr als jedes andere in EuropaBild: Smoliyenko Dmytro/Ukrinform/ABACA/picture alliance

Die russische Armee hält das Atomkraftwerk Saporischschja in der Südukraine seit März besetzt, seit Ende Juli wurde es wiederholt beschossen. Kiew und Moskau machen sich gegenseitig für die Angriffe verantwortlich. Das hat Befürchtungen vor einer atomaren Katastrophe am größten Atomkraftwerk Europas ausgelöst. Der UN-Sicherheitsrat hatte vergangene Woche eine Dringlichkeitssitzung zur Lage in Saporischschja abgehalten, ohne einer Lösung näherzukommen.

Ukraine-Krieg - Selenskyj
Der ukrainische Präsident Selenskyj hat vor den verheerenden Folgen einer nuklearen Katastrophe auch für Deutschland gewarntBild: Efrem Lukatsky/AP/dpa/picture alliance

Es ist nicht das erste Mal in diesem Krieg, dass die Frage der nuklearen Sicherheit gestellt wird. Dabei geht es nicht nur um einen möglichen Einsatz von Atomwaffen - Russlands Präsident Wladimir Putin hat diesen Gedanken offen ausgesprochen -, sondern auch um Kernkraftwerke als militärische Ziele.

Erstaunlich genaue Regeln

Was sagt das Völkerrecht dazu? Das Genfer Abkommen von 1949 und seine späteren Zusatzprotokolle regeln die Austragung bewaffneter Konflikte und sollen ihre Auswirkungen begrenzen. Im 1. Zusatzprotokoll von 1977 ist in Artikel 56 vom "Schutz von Anlagen und Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten" die Rede. Dabei werden neben Staudämmen und Deichen ausdrücklich auch Kernkraftwerke genannt.

Da die Russische Föderation und die Ukraine Vertragsparteien sind und keine Vorbehalte zum 1. Zusatzprotokoll geäußert haben, gelten die Regelungen für beide Staaten.

Schweiz | Genfer Konvetionen
Unterzeichnung des Genfer Abkommens 1949: In einem Zusatzprotokoll 1977 wurden auch Regeln zum Umgang mit Atomkraftwerken im Krieg festgelegtBild: ICRC Archives (ARR)/J. Cadoux

Und diese Regeln sind erstaunlich detailliert. Grundsätzlich dürfen danach Kernkraftwerke nicht angegriffen werden, nach Absatz 1 "auch dann nicht (…), wenn sie militärische Ziele darstellen, sofern ein solcher Angriff gefährliche Kräfte freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann". Gedacht ist hier zweifellos an radioaktive Strahlung.

Hier geht es um einen der Grundsätze des humanitären Völkerrechts, wie es im Genfer Abkommen konkretisiert wird: die Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen. Nur militärische Ziele dürfen danach angegriffen werden und auch diese nur unter bestimmten Voraussetzungen. Die Zivilbevölkerung ist in jedem Fall zu schützen.

Kernkraftwerke als "Unterstützer von Kriegshandlungen"

Aus dem Passus geht aber auch hervor, dass Atomkraftwerke nicht in jedem Fall tabu sind, sondern nur, "sofern ein solcher Angriff gefährliche Kräfte freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann". Das heißt, sind durch einen Angriff keine schweren Verluste unter der Zivilbevölkerung zu erwarten, kann ein Angriff unter Umständen erlaubt sein.

In Absatz 2 ist geregelt, welche Umstände das sein können, nämlich wenn die Kraftwerke "elektrischen Strom zur regelmäßigen, bedeutenden und unmittelbaren Unterstützung von Kriegshandlungen liefern und wenn ein solcher Angriff das einzige praktisch mögliche Mittel ist, um diese Unterstützung zu beenden".

Beschuss an ukrainischem AKW in Saporischschja
Ein russischer Soldat bewacht den Zugang zum Kraftwerk: Die Anlage ist seit März unter russischer KontrolleBild: AP/dpa/picture alliance

Der erste Punkt ist natürlich Auslegungssache. Fast jedes Kernkraftwerk wird zu Kriegszeiten Strom sowohl für zivile Verbraucher als auch für die Kriegshandlungen liefern. Eine Trennung ist da kaum möglich. Aber liefert es eine "bedeutende" Unterstützung von Kriegshandlungen? Somit liegt es im Ermessen des Betrachters, ein Kraftwerk als rechtmäßiges militärisches Ziel zu bewerten oder nicht.

Oberstes Ziel: Schutz der Zivilbevölkerung

Schwierig ist ebenfalls zu beweisen, dass ein Angriff "das einzige praktisch mögliche Mittel ist", um die Unterstützung der Kriegshandlungen zu beenden. Auf jeden Fall müsste der mögliche Angreifer vorher abwägen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten: Überwiegt hier klar der militärische Nutzen? Welche Konsequenzen hätte mein Handeln auf die Zivilbevölkerung? Und gibt es nicht auch weniger schwerwiegende Mittel, um das Kraftwerk unbrauchbar zu machen? Etwa die Zerstörung von Stromleitungen, so dass das Kraftwerk zwar keine Elektrizität mehr liefern kann, aber auch keine Strahlung austritt. Wobei natürlich auch eine Unterbrechung der Stromversorgung für die Bevölkerung, vor allem im Winter, schwerwiegend sein kann.

Ukraine I Zaporizhzhia I Saporischschja
Ein Angriff auf Stromleitungen setzt keine Strahlung frei, könnte aber ebenfalls schwerwiegende Folgen für Zivilisten habenBild: Dmytro Smolyenko/Ukrinform/IMAGO

Aber selbst wenn die Umstände einen Angriff rechtfertigen, so heißt es in Absatz 3 des Zusatzprotokolls, hat "die Zivilbevölkerung (...) weiterhin Anspruch auf jeden (...) durch das Völkerrecht gewährten Schutz". Der Angreifer müsste also auch dann alles tun, um Zivilisten gegen Verstrahlung zu schützen, etwa indem eine Evakuierung der umliegenden Gebiete eingeleitet wird.

Begrenzter Nutzen im konkreten Fall

Relevant gerade für den Konflikt um das Kraftwerk Saporischschja ist auch der Absatz 5: "Die am Konflikt beteiligten Parteien bemühen sich, in der Nähe der in Absatz 1 genannten Anlagen oder Einrichtungen keine militärischen Ziele anzulegen." Die Ukraine wirft Russland vor, sich militärisch beim Kraftwerk zu verschanzen, es praktisch als Schutzschild zu benutzen, um so ukrainischem Beschuss zu entgehen. Umgekehrt beschuldigte der örtliche russische Besatzungsvertreter Wladimir Rogow am Montag die Ukraine, es habe in der Nähe des Kraftwerks und in Wohngebieten heftigen ukrainischen Beschuss aus US-Haubitzen gegeben.

Einschränkend zum Verbot, in der Nähe eines AKW militärische Ziele anzulegen, heißt es wiederum: "Einrichtungen, die nur zu dem Zweck erstellt wurden, geschützte Anlagen oder Einrichtungen gegen Angriffe zu verteidigen, sind jedoch erlaubt und dürfen selbst nicht angegriffen werden." Russland wird zweifellos sein Militär beim Kraftwerk als rein defensiv darstellen.

Ukraine-Krieg | Raketenteil nahe Saporischschja Atomkraftwerk
Ein vom russischen Verteidigungsministerium herausgegebenes Foto eines Raketenteils: Russland wirft der Ukraine vor, das Kraftwerk und seine Umgebung unter Beschuss zu nehmenBild: Russian Defense Ministry/AP/dpa/picture alliance

Fazit: Die Staaten, die das Genfer Abkommen und seine Zusatzprotokolle unterzeichnet haben - und das sind auch Russland und die Ukraine -, haben sich hohe Hürden für Angriffe auf Atomkraftwerke gesetzt. Sie schließen sie allerdings nicht völlig aus, auch wenn die zulässigen Umstände sehr eng umrissen werden.

Trotzdem sind die praktischen Auswirkungen des Artikels 56 des 1. Zusatzprotokolls zum Genfer Abkommen begrenzt. Denn es bleibt zumeist Auslegungsfrage, ob diese Umstände im konkreten Fall gegeben sind oder nicht. Dazu kommt, dass Russland einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat mit Vetorecht hat und jede mögliche Sanktionierung durch die Vereinten Nationen wegen eines Bruchs des Völkerrechts verhindern könnte.

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik