Ukraine-Krieg: Bewährungsprobe für die Demokratie
23. Mai 2023Flüchtlinge erster und zweiter Klasse – gibt es die in Deutschland und anderen europäischen Staaten? Die Antwort im Grundrechte-Report 2023 ist ein klares Ja. Denn Geflüchtete aus der Ukraine kommen in den Genuss der sogenannten EU-Massenzustrom-Richtlinie. Sie soll die Überlastung des europäischen Asylsystems verhindern und kommt zum ersten Mal zum Einsatz. Die EU-Richtlinie erlaubt Geflüchteten aus der Ukraine, sich selbst das EU-Land auszusuchen, in dem sie leben möchten. Sie müssen dort keinen Asylantrag stellen, sondern sich lediglich registrieren. Damit steht ihnen die Grundsicherung zu. Sie können unbürokratisch bei Familienangehörigen oder Freunden unterkommen. Außerdem dürfen sie auf Arbeitssuche gehen, Schulen besuchen und medizinische Einrichtungen in Anspruch nehmen.
Prinzipiell findet Maximilian Pichl von der Universität Kassel das auch gut: Im Sinne einer effektiven humanitären Hilfe sei ein schnelles Handeln der EU wichtig, "zumal sie in der Vergangenheit bei der Aufnahme von Flüchtlingen oft uneinheitlich und repressiv vorging", schreibt der Rechts- und Politikwissenschaftler im Grundrechte-Report, jährlich veröffentlicht seit 1997 von Bürgerrechts- und Menschenrechtsorganisationen. Dazu gehören Pro Asyl, die Humanistische Union und die Internationale Liga für Menschrechte.
"Doppelstandards in der Asylpolitik"
Doch der Beschluss zugunsten von Ukrainerinnen und Ukrainern gehe zu Lasten von Menschen aus nicht-europäischen Herkunftsstaaten, bemängelt Pichl in seiner Analyse unter der Überschrift "Doppelstandards in der Asylpolitik". Denn aus dem Anwendungsbereich des EU-Beschlusses "fielen die vielen Menschen aus außereuropäischen Drittstaaten heraus, die bis zum Kriegsbeginn in der Ukraine lebten".
Der Asyl-Experte sieht aber auch gegenüber Menschen, die aus anderen Ländern als der Ukraine flüchten, "eklatante Unterschiede in der Aufnahme". Für sie gilt nämlich weiterhin die Pflicht, in sogenannten Erstaufnahmeeinrichtungen zu wohnen. In der Regel sind das Sammelunterkünfte.
Mittelmeer eine der "tödlichsten Grenzen der Welt"
Eine dezentrale Unterbringung ermögliche hingegen nicht nur, den beengten Verhältnissen in den Großunterkünften zu entfliehen, "sondern schafft zugleich ein leichteres Ankommen in der Aufnahmegesellschaft", betont der Wissenschaftler in seinem Beitrag für den Grundrechte-Report.
Die europäische Solidarität mit Menschen aus der Ukraine dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, "dass die Situation für Geflüchtete an den europäischen Außengrenzen menschenrechtlich untragbar bleibt", betont Pichl. Das Mittelmeer sei immer noch eine der tödlichsten Grenzen der Welt.
Aufnahme für die einen, Abschottung für die anderen"
Entsprechend klar fällt deshalb das Fazit aus, dass der Universitätsprofessor zieht: "Aufnahme für die einen, Abschottung für die anderen – das ist die Basis für eine Flüchtlingspolitik, die keinen universellen Anspruch mehr erhebt, sondern nur noch dem tagesaktuellen politischen Geschehen folgt." Auch wenn im Falle der Ukraine der vorübergehende Schutz aus guten Absichten gewährt werde, trügen solche Instrumente dennoch zu einer Aushöhlung eines universellen Asylrechts bei.
Auch ein anderer Schwerpunkt im Grundrechte-Report hat mit den Folgen des völkerrechtswidrigen Kriegs Russlands gegen die Ukraine zu tun: Waffenlieferungen und Aufrüstung. Die vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete "Zeitenwende" führte dazu, dass ein sogenanntes Sondervermögen für die Bundeswehr geschaffen wurde – sein Volumen: 100 Milliarden Euro.
"Verfassungsänderung widerspricht dem Friedensgebot"
Damit das mit Krediten finanzierte zusätzliche Militär-Budget nicht unter die in Deutschland geltende Schuldenbremse fällt, änderte das Parlament im Juni 2022 mit der dafür erforderlichen Zweit-Drittel-Mehrheit extra das Grundgesetz. "Diese Verfassungsänderung widerspricht dem Friedensgebot des Grundgesetzes", meint Andreas Engelmann von der University of Labour in Frankfurt am Main.
Der Jurist findet schon die Schuldenbremse selbst rechtsstaatlich fragwürdig. Doch durch das "Sondervermögen" für die Bundeswehr werde Aufrüstung entgegen der Systematik des Grundgesetzes in einen besonderen Verfassungsrang erhoben. "Damit wird das Grundgesetz zugleich geschwächt, weil es als normative Orientierung an Kraft verliert, wenn tagespolitische Mehrheiten über seinen Inhalt bestimmen", urteilt Engelmann.
Kritik am Senderverbot für russische Staatsmedien
Auch die Folgen für Presse-, Meinungs- und Informationsfreiheit sind ein Thema im Grundrechte-Report. Der Grund: Das Verbot der staatlichen russischen Auslandsmedien RT und Sputnik. RT DE, der deutschlandsprachige Ableger des Kreml-nahen Propagandasenders wurde bereits Anfang Februar 2022 von der deutschen Medienaufsicht verboten; im März 2022 folgte ein Verbot der EU im Rahmen der Sanktionen wegen des Einmarsches in der Ukraine. Spätestens seit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine muss RT als Teil der russischen Staatspropaganda betrachtet werden. Und doch: So nachvollziehbar Sanktionen gegen die russischen Staatsmedien RT und Sputnik auch sein mögen, so problematisch sei ihre verfassungs- und EU-rechtliche Fundierung, meint der Jurist Rolf Gössner.
Die Sendeverbote im Rahmen europäischer Wirtschafts- und Finanz-Sanktionsmaßnahmen hält der Medien-Experte für "höchst fragwürdig". Damit würden Inhalte und Meinungsbildung zensiert. Das EU-Sendeverbot sei auch ein Eingriff in die Informationsfreiheit, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.
Darunter versteht Gössner auch "unliebsame" Informationen und Narrative der "anderen Seite" - unabhängig davon, was von diesen inhaltlich, qualitativ oder moralisch zu halten sei. Einzig Rechtsverstöße begründeten eine Ausnahme. Der Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher verweist in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Das hat der Informationsfreiheit mitsamt der Medienvielfalt einen besonders hohen Stellenwert eingeräumt.
Wichtige Voraussetzungen der freiheitlichen Demokratie
"Es gehört zu den elementaren Bedürfnissen des Menschen, sich aus möglichst vielen Quellen zu unterrichten, das eigene Wissen zu erweitern und sich so als Persönlichkeit zu entfalten", zitiert der Jurist aus einem Urteil des höchsten deutschen Gerichts. Und weiter: "Das Grundrecht der Informationsfreiheit ist wie das Grundrecht der freien Meinungsäußerung eine der wichtigsten Voraussetzungen der freiheitlichen Demokratie."