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Konflikte

Ukraine aktuell: Angriff auf Energieversorgung Kiews

23. November 2022

Die Infrastruktur der ukrainischen Hauptstadt ist abermals angegriffen worden. Stromausfälle gibt es auch im Nachbarland Moldau und das EU-Parlament wirft Moskau vor, "terroristische Mittel" einzusetzen. Ein Überblick.

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Wintereinbruch in Kiew, Ukraine
In der ukrainischen Hauptstadt Kiew kommt es täglich zu Stromausfällen - Grund ist der anhaltende russische RaketenbeschussBild: Stanislav Boiko/ZUMA Wire/imago

 

Das Wichtigste in Kürze:

- Tote bei Angriffen auf Infrastruktur in Kiew und anderen Orten

- Kiews Bürgermeister Klitschko warnt vor harten Wintermonaten

- Auch Republik Moldau berichtet von Blackouts

- Ukraine richtet Tausende Notzentren ein

- EU-Parlament verurteilt Russland als Terrorismus-Unterstützer 

 

Aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew und weiteren Gebieten sind erneut Raketenangriffe gemeldet worden. In Kiew wurden nach Angaben der dortigen Militärverwaltung drei Menschen getötet und sechs verletzt. Zudem wurde durch den russischen Beschuss auch ein Objekt der kritischen Infrastruktur beschädigt, wie Bürgermeister Vitali Klitschko im Nachrichtendienst Telegram mitteilte. Um welches Gebäude es sich handelte, ist unklar.

Kurzzeitig fiel das Antennenfernsehen aus und es gab stärkere Schwankungen im ohnehin angeschlagenen Stromnetz. Wenig später teilte Klitschko mit, dass in der gesamten Metropole mit ihren drei Millionen Einwohnern die Wasserversorgung ausgefallen sei. Im ganzen Land wurde Luftalarm ausgelöst.

Über Explosionen - teils auch durch die Flugabwehr - wurde auch aus den Gebieten Odessa, Mykolajiw, Poltawa und Dnipropetrowsk berichtet. Zu möglichen Opfern gab es zunächst keine Angaben. Die westukrainische Stadt Lwiw war Angaben von Bürgermeister Andrij Sadowyj zufolge nach Angriffen zunächst komplett ohne Strom. Der UN-Sicherheitsrat in New York setzte wegen der Angriffe noch für Mittwoch eine Sondersitzung an.

Wintereinbruch in Kiew, Ukraine
Die Bürger in Kiew müssen laut Bürgermeister Vitali Klitschko mit schweren Wintermonaten rechnenBild: Jeff J Mitchell/Getty Images

Klitschko:  "Schlimmster Winter seit dem Zweiten Weltkrieg"

Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, sieht seine Stadt vor schweren Monaten. "Das ist der schlimmste Winter seit dem Zweiten Weltkrieg", sagte Vitali Klitschko der "Bild"-Zeitung (Mittwochsausgabe). Man müsse auf das "schlimmste Szenario" von flächendeckenden Stromausfällen bei tiefen Temperaturen vorbereitet sein, so der Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt: "Dann müssten Teile der Stadt evakuiert werden", warnte der ehemalige Profiboxer, der seit 2014 die Geschicke der Millionen-Metropole leitet.

Vitali Klitschko
Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew, warnt vor einem schweren Winter für seine StadtBild: John Moore/Getty Images

Er warf dem russischen Staatschef Wladimir Putin vor, durch Angriffe auf die zivile Infrastruktur die Ukrainer zur Flucht aus Kiew treiben zu wollen. "Putin will die Menschen terrorisieren, sie frieren lassen, ohne Licht." So solle Druck auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ausgeübt werden.

"Aber das wird nicht passieren. Mein Eindruck ist: Die Menschen werden nur noch wütender, noch entschlossener. Wir werden nicht sterben oder fliehen, so wie Putin es möchte", sagte Klitschko. Er bat Deutschland, neben Waffen zur Verteidigung dringend auch Generatoren, Schutzkleidung und humanitäre Güter zu schicken.

Blackouts in der Republik Moldau

Nach neuen russischen Raketenangriffen auf die Ukraine hat auch deren Nachbarland, die Republik Moldau, von großflächigen Blackouts berichtet. "Nach Russlands Bombardierung des ukrainischen Energiesystems in der vergangenen Stunde haben wir landesweit massive Stromausfälle", schrieb der moldauische Vizepremier Andrei Spinu im Nachrichtendienst Telegram.

Der Gouverneur der ukrainischen Region Chmelnyzkyj teilte mit, das dortige Atomkraftwerk sei nach den jüngsten Angriffen vom Stromnetz abgetrennt worden. Medien berichteten zudem von Notabschaltungen in zwei weiteren Kraftwerken. Ob es einen Zusammenhang zwischen diesen Vorfällen und den Stromausfällen in Moldau gab, war zunächst unklar. 

4000 "Unbesiegbarkeitszentren"

Die Ukraine stellt im ganzen Land Notzentren zur Versorgung der Bevölkerung auf. Präsident Selenskyj bezeichnete die Versorgungsstationen, in denen Strom, Wärme, Wasser, Internet, Telefon und Medizin kostenfrei zur Verfügung stehen, als "Unbesiegbarkeitszentren".

Ukraine, Cherson | Einwohner warten am Bahnhof auf den Zug nach Kiew
Ladekabel und Heizung - wie in dieser Bahnhofshalle in Cherson soll die Bevölkerung in Notzentren Hilfe bekommenBild: Svet Jacqueline/ZUMA/dpa/picture alliance

In seiner abendlichen Videoansprache sagte er: "Sollte es erneut zu massiven russischen Angriffen kommen und es ist klar, dass die Stromversorgung stundenlang nicht wiederhergestellt werden kann, werden die 'Unbesiegbarkeitszentren' mit allen wichtigen Diensten in Aktion treten". Die Ukraine müsse auf jedes Szenario vorbereitet sein. Es seien bereits mehr als 4000 Zentren eingerichtet, weitere seien geplant.

Die lokalen Behörden sollten darüber informieren, "wo man im Falle eines längeren Stromausfalls Unterstützung finden kann". Auch Unternehmen seien gebeten, Räume oder Hilfen zur Verfügung zu stellen. Durch die russischen Angriffe auf das Elektrizitätsnetz hat die Ukraine mit Stromausfällen zu kämpfen, aber auch mit Problemen bei Heizung, Wasser- und Gasversorgung.

Russland zum Terrorismus-Unterstützer erklärt

Das EU-Parlament hat Russland als staatlichen Unterstützer von Terrorismus verurteilt. Zudem soll die EU nach dem Willen des Europaparlaments eine Terrorliste für Staaten wie Russland schaffen, um diese strenger zu bestrafen. Eine große Mehrheit der Abgeordneten stimmte einer entsprechenden Resolution zu, die Russland auch als einen "terroristische Mittel einsetzenden Staat" bezeichnet. Bisher kennt das europäische Recht keine Kategorie oder Liste für Staaten, die Terrorismus unterstützen. 

Russische Raketen auf Entbindungsklinik

Bei einem russischen Angriff auf eine Entbindungsstation in der südukrainischen Region Saporischschja ist nach ukrainischen Angaben ein Neugeborenes getötet worden. In der Nacht zum Mittwoch wurde in der Stadt Wilniansk bei einem Raketenangriff auf das örtliche Krankenhaus das zweistöckige Gebäude der Entbindungsstation zerstört, wie ukrainische Rettungsdienste im Onlinedienst Telegram erklärten. 

In dem Gebäude befanden sich eine Frau mit ihrem Neugeborenen und ein Arzt, hieß es. Das Baby wurde bei dem Angriff getötet, die Frau und der Arzt konnten aus den Trümmern gerettet werden, berichteten die Rettungsdienste. Ein von ihnen veröffentlichtes Video zeigt wie Rettungskräfte versuchen, einen unter Trümmern begrabenen Mann zu befreien. 

Die Kleinstadt Wilniansk liegt im Norden der Region Saporischschja, deren südlicher Teil größtenteils von russischen Truppen besetzt ist und die der Kreml für annektiert erklärt hat.

Präsident Selenskyj warf Russland nach dem Angriff vor, "Terror und Mord" in die Ukraine zu bringen. 

"Tausende Orte zurückerobern"

In einer Videobotschaft für französische Kommunalpolitiker führte Selenskyj nach Angaben des Präsidialamtes in Kiew aus, dass in der Ukraine noch etwa 2000 von russischen Truppen besetzte Städte und Dörfer befreit werden müssten. Einige Dutzend Orte wie die Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer oder Wolnowacha im Gebiet Donezk seien durch russische Angriffe völlig zerstört worden.

Ukraine | Präsident Selenskyj in Kiew
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (19.11.2022)Bild: Ukrainian Presidency/Getty Images

Die Ukraine versuche, in zurückeroberten Ortschaften das Leben rasch wieder zu normalisieren, sagte Selenskyj. Sein Land sei deshalb dankbar für alle Hilfen bei der Verteidigung und beim Wiederaufbau. Wo die russische Armee sich zurückziehe, plündere sie die besetzten Städte und Dörfer noch einmal aus und zerstöre die Infrastruktur. Die ukrainische Armee habe in den fast neun Monaten Krieg bislang etwa 1880 Ortschaften befreit, teilte der Vizechef des Präsidialamtes, Kyrylo Tymoschenko, mit.

"EU darf nicht müde werden zu helfen"

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba hat an die Europäische Union appelliert, angesichts des Krieges in der Ukraine "alle Zweifel" und "Müdigkeit" beiseite zu stellen und "das neunte Sanktionspaket", das "seit langem überfällig" sei, "so schnell wie möglich fertigzustellen", sagte er am Dienstag bei einer Online-Pressekonferenz. "Wenn wir Ukrainer nicht müde sind, hat der Rest Europas weder ein moralisches noch ein politisches Recht, müde zu sein."

Dmytro Kuleba
Dymtro Kuleba, ukrainischer Außenminister, fordert von der EU anhaltende HilfeBild: Lev Radin/Pacific Press Agency/IMAGO

Kuleba forderte, insbesondere den staatlichen Atombetreiber Rosatom wegen seiner Rolle bei der Besetzung des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja zu bestrafen. Wichtig seien auch Sanktionen, die es ermöglichen, die russische Rüstungsindustrie zu "bremsen".

"Russlands Fähigkeit, neue Raketen zu produzieren, muss zerstört werden, um zu verhindern, dass sie zusätzliche Ressourcen haben, um Ukrainer zu töten, ukrainische Städte und das Energiesystem zu zerstören", argumentierte er.

Kuleba appellierte zudem an den Westen, seine Waffenlieferungen, insbesondere Luftabwehrsysteme, an Kiew zu erhöhen. Moskau zerstört seit Wochen gezielt die Energieinfrastruktur des Nachbarlandes.

Weitere Milliarden aus den USA

Die US-Regierung erklärte unterdessen, sie werde die Ukraine über die Weltbank mit 4,5 Milliarden Dollar (4,4 Milliarden Euro) unterstützen, um die wirtschaftliche Stabilität zu fördern und die wichtigsten staatlichen Dienstleistungen zu unterstützen. "Diese Mittel werden in den kommenden Wochen ausgezahlt", erklärte Finanzministerin Janet Yellen.

Die US-Gelder kommen "zu einem kritischen Zeitpunkt, da das Land mit schwerwiegenden Unterbrechungen der Energieversorgung und kälterem Wetter konfrontiert ist", erklärte Weltbankpräsident David Malpass. Die Weltbank hat laut Malpass bisher fast 17,8 Milliarden Dollar an Soforthilfe zur Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung mobilisiert, von denen mehr als 11,4 Milliarden Dollar ausgezahlt wurden.

Deutschland darf Firmen gegen Kriegsfolgen helfen

Deutschland darf Firmen mit weiteren Milliarden helfen, um die Folgen von Russlands Krieg gegen die Ukraine abzufedern. Die EU-Kommission genehmigte eine entsprechende Änderung bestehender Unterstützungsprogramme, wie die Brüsseler Behörde am Dienstagabend mitteilte.

Konkret geht es um mehrere Maßnahmen, die angepasst wurden und nun etwa zusätzlich mit bis zu 45 Milliarden Euro ausgestattet werden. Neu ist auch, dass Hilfen künftig bis zum 31. Dezember 2023 gewährt werden können. Bislang waren die Maßnahmen nur bis Jahresende angemeldet. Zudem können vom Krieg betroffene Unternehmen im Rahmen einer der Regelungen künftig mit bis zu zwei Millionen statt 500.000 Euro unterstützt werden.

Viele Firmen ächzen vor allem unter den im Zuge des Kriegs stark steigenden Energiepreisen, aber auch Lieferketten sind gestört. So haben auch die von der EU gegen Russland verhängten Sanktionen Auswirkungen auf deutsche Unternehmen. Die Staatsgelder der nun angepassten Maßnahmen werden den Angaben zufolge auf verschiedene Weisen - etwa in Form von Zuschüssen oder Krediten - gewährt.

Tschechien ändert Verteidigungsstrategie

Der NATO-Mitgliedstaat Tschechien ändert wegen des russischen Kriegs gegen die Ukraine seine Verteidigungspläne, um für eine mögliche Eskalation gewappnet zu sein. Man müsse sich primär auf einen Krieg großen Ausmaßes gegen einen hoch entwickelten Gegner vorbereiten, sagte Generalstabschef Karel Rehka der Agentur CTK zufolge in Prag.

Karel Rehka
Karel Rehka, tschechischer Generalstabschef, stellt die neuen Verteidigungsrichtlinien vorBild: Michal Krumphanzl/CTK/dpa/picture alliance/dpa/CTK

Zuletzt hatte sich das Training eher auf die Beteiligung an Anti-Terror- und Friedenseinsätzen im Ausland wie in Mali konzentriert. Rehka warnte davor, dass das Eskalationspotenzial des Krieges in der Ukraine immer weiter anwachse. Selbst die "ernstesten Szenarien" der weiteren Entwicklung könnten nicht länger ausgeschlossen werden.

Das deutsche Nachbarland ist seit 1999 Mitglied des westlichen Verteidigungsbündnisses. Tschechien verfügt über knapp 27.000 Berufssoldaten und rund 3600 Reservisten. Die allgemeine Wehrpflicht wurde im Jahr 2004 abgeschafft. Für die nächsten Jahre ist ein großes Investitionsprogramm in die Armee geplant.

mak/se (dpa, rtr, afp, ap)

Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.