Türkei verschleppt Waffenhändler aus der Ukraine
5. Februar 2022Wenn der türkische Präsident Erdogan im Fernsehen auftritt, weiß in der Türkei jeder, dass ihm das Thema wichtig ist. In der vergangenen Woche verkündete Erdogan dort aber die Ergreifung eines Mannes, von dem viele Menschen in der Türkei noch nie gehört hatten: Nuri Bozkir. Doch wer ist dieser Mann, warum ist er Erdogan so wichtig?
DW-Recherchen zeigen, Bozkir war ein Whistleblower und wollte auspacken über verdeckte türkische Waffenlieferungen in Kriegsgebiete. Viele glauben, dass er eine Gefahr darstellte für Präsident Erdogan: Wie kaum ein anderer, hätte er systemische Verstöße der Türkei gegen internationale Abmachungen aufdecken können. Denn der verschleppte Waffenhändler war nach eigenen Angaben wichtiger Teil eines geheimen Netzwerkes, das Waffen nach Syrien und Libyen lieferte. Waffenlieferungen, die unbedingt geheim bleiben sollten und an denen auch die türkische Regierung kräftig mitverdiente.
Offenbar um ihn zum Schweigen zu bringen, wurde der frühere Elitesoldat und spätere Waffenhändler nun aus dem Verkehr gezogen. Bei seinem Auftritt in den regierungsnahen türkischen Medien erklärte Erdogan, Bozkir sei vom türkischen Geheimdienst MiT in der Ukraine gefasst worden.
"Unser Geheimdienst hatte herausgefunden, dass diese Person sich in der Ukraine versteckt hielt. Wir haben mit Präsident Selenskyj darüber gesprochen, dass die Person gefasst und zurück in die Türkei gebracht werden soll", so Erdogan. "Unser Geheimdienst und die gute Zusammenarbeit mit unseren Partnern haben diese Verhaftung erst möglich gemacht."
Ein Whistleblower packt aus
Bozkir war für die Regierung zu einem Risiko geworden, als er begonnen hatte, das ukrainische Nachrichtenportal Strana mit brisanten Informationen zu beliefern: Zum Beispiel darüber, wie er im Auftrag der Türkei in verschiedenen osteuropäischen Ländern Waffen kaufte, die türkische Geheimdienstmitarbeiter dann an islamistische Rebellengruppen in Syrien lieferten. Es waren Waffen im Wert von mehreren hundert Millionen Dollar, 50 Transporte insgesamt.
Jahrelang liefen die Geschäfte gut für Bozkir. Doch als er irgendwann versuchte, auf eigene Rechnung Waffen nach Syrien zu verkaufen, fing die türkische Polizei seine Lieferung ab. Bozkir musste fliehen. Seine Geheimdienst-Komplizen vom MiT halfen ihm und brachten ihn in einer überstürzten Aktion außer Landes.
In der Ukraine beantragte Bozkir politisches Asyl. Er befürchtete, die türkischen Behörden könnten sich gegen ihn wenden, auch wenn viele der Operationen, an denen er beteiligt war, von Seiten der Regierung genehmigt waren. Und er begann, erste Dokumente zu leaken.
Kampf gegen die Auslieferung
Die Türkei reagierte auf Bozkirs Asylantrag mit einer sogenannten "Red Notice", einem Interpol-Fahndungsaufruf. Darin fordert die Erdogan-Regierung seine Festnahme und Auslieferung im Zusammenhang mit der Ermordung eines türkischen Akademikers, Necep Hablemitoglu, im Jahr 2002.
Der Fall ist bis heute ungelöst, doch im Auslieferungsgesuch, das der DW vorliegt, präsentiert die Türkei zwei Zeugen, die sich erinnern, Bozkir in einem Auto in der Nähe des Tatortes gesehen zu haben. Bozkirs ukrainischer Rechtsanwalt hält die Vorwürfe für konstruiert:
"Ich habe die Dokumente, die die türkische Seite vorgelegt hat, sorgfältig gelesen", so Anwalt Roman Denysiuk gegenüber der DW. "Die Beweise sind sehr zweifelhaft. Es gibt keinen direkten Beweis für seine Beteiligung an der Ermordung des Professors."
Zwei Jahre lang beschäftigten sich die ukrainischen Gerichte mit dem Auslieferungsgesuch, bis heute hatten die Richter noch kein finales Urteil gefällt. Trotzdem verschleppten türkische Geheimdienstmitarbeiter Bozkir jetzt aus der Ukraine - ob mit Wissen oder sogar Unterstützung der ukrainischen Behörden, ist noch unklar. Weder die ukrainische noch die türkische Regierung waren zu einer Stellungnahme bereit. Wiederholte Anfragen der Deutschen Welle an beide Seiten blieben unbeantwortet.
"Was die ukrainischen Sicherheitsdienste getan haben, ist nach ukrainischem Gesetz illegal", so Anwalt Denysiuk. "Sie haben ihre Befugnisse überschritten, dafür können sie strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden."
Im Visier der Türkei
Tatsächlich ist Nuri Bozkir kein Einzelfall. Auch andere gerieten bereits ins Visier der türkischen Regierung, weil sie interne Details über geheime Waffenlieferungen und die dahinterstehenden Netzwerke enthüllt hatten.
Prominentestes Opfer ist der türkische Journalist Can Dündar. Im Jahr 2015 veröffentlichte er ein Video, das zum ersten Mal türkische Waffenlieferungen nach Syrien zeigten. Dafür wurde er wegen Verrats von Staatsgeheimnissen angeklagt. Nach einem Gerichtstermin in Istanbul entging er nur knapp einem Mordanschlag. Dündar ging daraufhin ins Exil und wurde in Abwesenheit zu 27 Jahren Gefängnis verurteilt.
Die türkische Regierung bediene sich ganz bewusst derartiger Taktiken, ist Dündar überzeugt. Strafanzeigen mit konstruierten Anschuldigungen und sogenannte außerordentliche Überstellungen wie im Fall von Bozkir seien Mittel zum Zweck, um unliebsame Kritiker zum Verstummen zu bringen und potenzielle Whistleblower davon abzuhalten, brisantes Wissen auszuplaudern, so Dündar nach Bozkirs Verhaftung gegenüber der DW.
"Es ist gängige Praxis der türkischen Regierung. Sie bringen die zum Schweigen, die die schmutzigen Taten des Staates ans Licht bringen wollen. Die Mächtigen wissen, dass Bozkir viel über ihr korruptes System weiß. Und dass der ganze Dreck herauskommt, wenn er auspackt."
"Außerordentliche Überstellungen"
Die in Washington ansässige pro-demokratische Organisation Freedom House hat dokumentiert, dass die Türkei seit 2014 in mindestens 58 Fällen von außerordentlichen Überstellungen verwickelt war - also Staatsbürger verschleppt hat.
In einer Studie aus dem Jahr 2021 schreibt Freedom House, dass die Anzahl der internationalen Fahndungsaufrufe in den vergangenen Jahren stark gestiegen sei. Die Türkei nutze die "Red Notices", um Kritiker und vermeintliche Staatsfeinde in die Türkei zurückzubringen.
Bezeichnend sei das "stark ausgeprägte Vertrauen auf Überstellungen, bei denen die Regierung und ihr Geheimdienst Drittstaaten davon überzeugen, Personen ohne ordentliche Verfahren und ohne auch nur einen Hauch von Legitimität auszuliefern."
Ukraine unter Druck
Die Verschleppung des Waffenhändlers Bozkir wurde eine Woche vor dem Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Erdogan in der Ukraine bekannt - zu einem Zeitpunkt, als Kiew in Anbetracht der wachsenden militärischen Präsenz Russlands an der Grenze um internationale Partner wirbt.
Experten gehen davon aus, dass die Ukraine bereit ist, potenziellen Verbündeten Zugeständnisse zu machen, um im Gegenzug Unterstützung in der aktuellen Krise zu erhalten - insbesondere nachdem Partner wie Deutschland sich darauf beschränken, statt Waffen Schutzhelme in die Ukraine zu schicken.
"Die Türkei ist der Hüter der Meerenge, unter den nicht-russischen Anrainerstaaten ist sie das Land mit der besten Marine", erklärt Gustav Gressel, Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations, im Gespräch mit der DW. "Für die Ukraine ist es also wichtig, die Türkei so weit wie möglich auf ihrer Seite zu haben."
Und genau deshalb, denkt Bozkirs Anwalt Roman Denysiuk, hätten die ukrainischen Sicherheitsbehörden entweder mitgeholfen oder zumindest weggeschaut, als der türkische Geheimdienst Nuri Bozkir aus der Ukraine verschleppte: "Die Ukraine hat sich entschieden, der Türkei ein Geschenk zu machen."
In seinem Fernsehauftritt lobte der türkische Präsident Erdogan dann auch die gute Zusammenarbeit mit den ukrainischen "Gesprächspartnern" bei der Ergreifung Bozkirs. Und er schloss mit einer deutlichen Drohung an andere mögliche Whistleblower. Er wolle die Gelegenheit nutzen, sich an alle "Verräter" zu wenden, sagte er: "Wo auch immer ihr hingeht, ihr werdet der türkischen Justiz nicht entkommen und zur Rechenschaft gezogen."