Türken in Deutschland: Proteste gegen Armenier-Debatte
22. Juni 2005Einige tausend Menschen marschierten am vergangenen Sonntag (19.6.) mit türkischen Fahnen und Transparenten auf dem Berliner Kurfürstendamm. Die zentrale Losung auf den Transparenten lautet: "Jetzt reicht's". Gemeint sei, sagt Nalan Arkan von den Organisatoren der Demonstration, die Art, wie in Deutschland mit dem Schicksal der Armenier 1915 im damaligen Osmanischen Reich umgegangen werde. Der Beschluss des Bundestages zur Vertreibung und den Massakern an den Armeniern am vergangenen Donnerstag (16.6.) - das sei der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hätte.
Stimmungsmache gegen Türken?
Arkan sagte: „Wir finden, man hat die andere Seite der Medaille überhaupt nicht sehen wollen, uns gar keine Möglichkeit gegeben, unseren Standpunkt zu vertreten. Man möchte vor den Wahlen rechte Stimmen gewinnen! Und da macht es sich sehr gut, Stimmung gegen die Türkei, gegen die Türken zu schüren. Dagegen protestieren wir. Wir haben nichts gegen Armenier. Es sind Massaker geschehen. Das ist leider die Geschichte. Man muss sie genauer untersuchen. Das ist aber keine Frage der europäischen Parlamente. Das Parlament ist kein Gerichtshof. Wir sind gegen den politischen Missbrauch der Geschichte."
Umstrittene Broschüre
Demonstranten und türkische Medien werfen außerdem einer Broschüre Einseitigkeit vor, die der Berliner Migrationsbeauftragte Günter Piening herausgebracht hat. "Armenier in Berlin - Berlin und Armenien", lautet der Titel des 104 Seiten umfassenden Heftes, das in der Deutschlandausgabe der türkischen Zeitung Hürriyet als "Die große Schande von Berlin" bezeichnet wurde. Grund für diesen Unmut ist die eindeutige Thematisierung des armenischen Schicksals. Die Autorin der Broschüre, Tessa Hofmann, ist Armenienexpertin an der Freien Universität Berlin.
Sie hält ihre Darstellung für gerechtfertigt. In der Broschüre umschreibt sie die damalige Massentötung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern mit dem Begriff, den die türkische Seite empört ablehnt: "Völkermord". Frau Hofmann erklärt diese Wortwahl so: „Armenier sind in erster Linie nicht freiwillig nach Berlin gekommen, sondern als Flüchtlinge, als Opfer von Vertreibung und als Überlebende von Völkermord. Man kann nicht über die Geschichte dieser Minderheit in Berlin schreiben, ohne diese Ereignisse zu erwähnen. Dass die türkische Gemeinschaft in Berlin, in Deutschland und darüber hinaus in der Türkei Anlass hat, sich mit ihrer jüngeren Geschichte auseinanderzusetzen - das ist unstrittig und ist immer wieder Gegenstand von Resolutionen der Europäischen Union gewesen."
Migrationsbeauftragter: Keine Tabus
Soweit würde der Berliner Migrationsbeauftragte Günther Piening nicht gehen. Sein Anliegen sind die Migranten in Berlin und ihre Integration in die deutsche Gesellschaft. Dieses Ziel verfolgen alle bisherigen 49 Broschüren seiner Dienststelle über Migranten und Minderheiten, die in Berlin leben. Aber was hat ein solch schwer beladenes Thema wie Völkermord mit Integration zu tun?
Piening meint: „Ich sehe, dass dies ein schmerzhafter Prozess ist - auch für die türkische Minderheit. Aber man muss auch klar sagen: Wir kommen in einer Einwandererstadt wir Berlin an diesen Diskussionen nicht vorbei! Ich bin ein kleiner Integrationspolitiker und kein schwergewichtiger Außenpolitiker. Die Frage, wie die Türkei damit umgeht, ist für mich von zweitrangiger Bedeutung. Mir geht es darum, wie wir hier in Berlin mit diesen Themen umgehen. Und da kann ich nur sagen: Wir können es nicht zulassen, dass eine Minderheit ein wichtiges Thema mit einem Tabu belegt. Das können wir auch für die künftigen Generationen in Berlin nicht zulassen."
Weniger Demonstranten als erwartet
Angesprochen auf die Stimmen, die sagen, die Demonstration vom Sonntag (19.6.) beweise, dass unter den Türken in Deutschland ein neuer Nationalismus entstehe, sagt Piening, das sehe er nicht so. Nicht nur, weil statt der erwarteten 50.000 Demonstranten nach Polizei-Angaben gerade einmal 1.500 türkische Protestler kamen. Piening deutet die türkische Empörung auch als Ausdruck der Verunsicherung von Menschen, die mit einem eindeutigen Geschichtsbild aufgewachsen seien, das nie hinterfragt worden sei. Jetzt müssten sie erleben, dass ihre Umwelt genau das bezweifle, was sie stets als gegeben hingenommen hatten. Die Diskussion darüber, so schmerzlich sie auch sei, müsse man allerdings führen.
Panagiotis Kouparanis
DW-RADIO, 20.6.2005, Fokus Ost-Südost