1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Türkei: Gratwanderung zwischen Härte und Vernunft

Baha Güngör29. August 2006

Nach der Terrorwelle in türkischen Urlaubsorten muss das Land mit Besonnenheit reagieren. Fehlende Ausbildung, Arbeit und Zukunft produzieren den Nährboden für den terroristischen Nachwuchs. Baha Güngör kommentiert.

https://p.dw.com/p/91HJ

Die Türkei ist erneut Schauplatz blutigen Terrors von Splittergruppen der militanten kurdischen Separatistenorganisation PKK (Arbeiterpartei Kurdistans). Menschenverachtende Gewaltaktionen mit angeblich politisch motivierten Zielen: Wieder einmal soll die Freilassung des vor mehr als sieben Jahren verhafteten und auf einer Gefängnisinsel im Marmarameer bei Istanbul internierten PKK-Führers Abdullah Öcalan erzwungen werden. Das zumindest verlangen die Bombenleger von Istanbul, Marmaris und Antalya in ihren Bekennerschreiben.

Attentäter verfolgen die gleiche Taktik

Türkische Redaktion Baha Güngör
Baha Güngör

Die Opfer: unschuldige Einheimische und arglose ausländische Touristen. Die Wahl der Anschlagorte zeigt, dass die Bombenleger vor allem die ökonomisch wichtige, aber sehr empfindliche Tourismusbranche treffen wollten. 20 Millionen Urlaubsgäste aus dem Ausland waren im vergangenen Jahr der größte Devisenbringer für den türkischen Staat.

Nach dem Karikaturenstreit, dem Ausbruch neuer Gewalt in Nahost und der Vogelgrippe mussten in diesem Jahr bereits schwere Rückschläge verkraftet werden. Jetzt, nach den jüngsten Explosionen, ist noch größerer Schaden zu befürchten. Denn Touristen, die Angst haben, suchen sich andere Ziele. Wut und der Ruf nach staatlicher Gegengewalt sind insofern nachvollziehbare Reaktionen in der Türkei auf die Menschen verachtenden Anschläge.

Damit wird wieder einmal deutlich, dass es keinen Unterschied gibt zwischen den kurdischen Bombenlegern und islamistischen Selbstmordattentätern, die die Welt in Atem halten. Sie alle verfolgen die gleiche Taktik, um ihre angeblich politischen Ziele durchzusetzen: Verunsichern der Öffentlichkeit, Schüren von Panik, Polarisieren der Gesellschaft, das Anrichten von wirtschaftlichem Schaden und mit all dem nicht zuletzt Schwächung von Demokratie und Rechtsstaat.

Repression gegenüber Kurden ist kontraproduktiv

Diese Saat der Terroristen darf nicht aufgehen - in der Türkei ebenso wenig wie anderswo. Deswegen muss der türkische Staat auf die aktuelle terroristische Herausforderung mit Besonnenheit reagieren. Das Scheren aller Kurden über einen Kamm, die wahllos angewandte militärische Gewalt in den kurdischen Siedlungsgebieten oder polizeiliches sowie juristisches Vorgehen gegen anders denkende Intellektuelle haben bislang nichts gebracht und werden auch in Zukunft nichts bringen. Eine Republik, die zur Union der Demokratien Europas aufschließen möchte, muss auch tolerant gegenüber kritischen Stimmen im eigenen Land sein. Sie darf sich nicht zu unüberlegten Handlungen zur Beruhigung der Volksseele hinreißen lassen.

Härte ja, aber in rechtsstaatlichem Rahmen

Vielmehr muss sich die Türkei der Herausforderung ihrer Gratwanderung zwischen Härte gegen Terroristen und staatlicher Vernunft bewusst sein. Die auch in Deutschland verbotene PKK und ihre Splittergruppen müssen einerseits die volle Härte des Rechtsstaates zu spüren bekommen, den die Festnahme und Verurteilung von Straftätern durch ordentliche Gerichte auszeichnet. Andererseits aber müssen dringend fällige Reformen in den entlegenen, politisch ebenso wie wirtschaftlich und sozial vernachlässigten Regionen Anatoliens erarbeitet und umgesetzt werden. Das setzt vor allem das Aufbrechen der feudalen Strukturen voraus, damit kurdische Großgrundbesitzer nicht mehr die Legislative, die Judikative und die Exekutive ersetzen und Tausende mittellose Kurden wie Leibeigene ausbeuten.

Zielvorgabe: Zukunftsperspektiven für junge Kurden schaffen

Terroristen rekrutieren überall in der Welt ihren Nachwuchs aus den Massen junger Menschen ohne Hoffnung auf Ausbildung, Arbeit und Zukunft. Davon gibt es auch in der Türkei noch zu viele. Die Arbeitslosigkeit von bis zu 70 Prozent in den überwiegend von Kurden bevölkerten Provinzen Anatoliens produziert die Menschen, die ihr Heil in den Reihen der Untergrundorganisationen suchen, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen ihnen und der staatlichen Gewalt irreparabel zerstört ist.