Türkei erwartet Flüchtlingsansturm aus Syrien
9. Juni 2011Die Lage im Nordwesten Syriens hat sich verschärft. Aus Furcht vor einer Militäroffensive des Regimes in Damaskus flüchten immer mehr Menschen von dort in die benachbarte Türkei. Erstmals seit dem Beginn der Proteste gegen Präsident Baschar al-Assad kamen innerhalb von 24 Stunden über 1000 Menschen über die Grenze, wo sie in Lagern des Türkischen Roten Halbmondes untergebracht wurden.
Nach Angaben der türkischen Behörden sind bislang rund 2400 Geflohene in Yayladagi in der Provinz Hatay angekommen. Die Regierung in Ankara rechnet mit bis zu einer Million Menschen in der nächsten Zeit. Bereits Ende April, im Zuge der Ankunft der ersten 250 syrischen Flüchtlinge, hatte der türkische Rote Halbmond ein Lager mit 100 Zelten aufgebaut, 900 weitere sollen in den kommenden Tagen hinzu kommen.
Erdogan: Türkei steht Syrern offen
Um eine humanitäre Katastrophe wie 1991 zu verhindern, hatte der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch erklärt, die Türen für Flüchtlinge stünden offen. Damals waren hunderttausende irakische Kurden vor den Truppen des irakischen Machthabers Saddam Hussein geflohen. Die Türkei war unvorbereitet, zahlreiche Menschen starben in den überfüllten Lagern.
Laut Medien stellte die Regierung in Ankara umgerechnet rund 13 Millionen Euro für ihr Flüchtlingsprogramm bereit. Außenminister Ahmet Davutoglu sagte, die nötigen Vorkehrungen seien getroffen und die Situation "unter Kontrolle".
Furcht vor Vergeltung
Die türkische Provinz Hatay liegt rund 40 Kilometer von der syrischen Stadt Dschisr al-Schogur entfernt, wo die Menschen eine Vergeltungsaktion der Armee für die angebliche Ermordung von 120 Polizisten durch Aufständische fürchten. Nach Angaben eines Aktivisten waren am Donnerstag (09.06.2011) dutzende Fahrzeuge mit Panzern auf dem Weg in die Stadt. "Dschisr al-Schogur ist praktisch leer", sagte einer der Flüchtlinge. "Die Menschen wollen nicht einfach dort sitzen und abgeschlachtet werden wie die Lämmer."
Die regierungsnahe syrische Nachrichtenwebsite "Damas Post" meldet, zahlreiche Einwohner der Region hätten die Städte und Dörfer der Provinz verlassen, damit die Armee freie Hand habe bei der Verfolgung bewaffneter Extremisten. Zwischen 800 und 2000 Kämpfer, darunter "Frauen und Männer aus Dörfern, die für ihren religiösen Extremismus bekannt sind", bereiteten sich dort auf eine Schlacht vor.
Streit unter Soldaten
Dagegen berichten Regimegegner aus dem Bezirk, Soldaten hätten auf Demonstranten in Dschisr al-Schogur geschossen und die Bewohner des Ortes gedemütigt. Anschließend sei es zu einem Gefecht unter den Soldaten gekommen, weil sich einige den Befehlen ihres Kommandeurs widersetzt hätten.
Am Sitz der Vereinten Nationen in New York laufen derweil Gespräche über eine Syrien-Resolution des Weltsicherheitsrates. Der von Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Portugal eingebrachte Text fordert ein sofortiges Ende der Gewalt gegen die syrische Opposition sowie ein Ende der Belagerung von Städten durch die Armee. Zudem werden politische Reformen sowie ein Waffenembargo gefordert.
Auch geheime Atompläne vor dem Sicherheitsrat
Aber nicht nur die Gewalt gegen friedliche Demonstranten beschäftigt den Sicherheitsrat. Das höchste UN-Gremium soll sich demnächst auch mit den geheimen Atomplänen der Regierung in Damaskus befassen.
Das Direktorium der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien stimmte mehrheitlich für eine entsprechende Empfehlung, die von der US-Regierung und zwölf ihrer Verbündeten eingebracht worden war. Russland und China hatten dagegen gestimmt, was die Differenzen zwischen den Veto-Mächten im Sicherheitsrat deutlich macht.
Mangelnde Kooperation
Hintergrund des Atomstreits mit Syrien sind Zweifel am wahren Zweck eines Gebäudekomplexes in Al Kibar (Dair Alzour), hinter dem viele Länder einen geheimen, im Bau befindlichen Atomreaktor vermuteten. Israel bombardierte die Anlage 2007, bevor deren Nutzen geklärt werden konnte. Auch wenn das Regime in Damaskus die Vorwürfe bestreitet, arbeitet das Land seit Jahren nicht ausreichend mit der IAEA zusammen.
Nach vier Jahren stellte IAEA-Chef Yukiya Amano in seinem Bericht im vergangenen Monat erstmals fest, dass Al Kibar "mit großer Wahrscheinlichkeit" ein geheimer Atomreaktor gewesen sei. Syrien habe damit seine internationalen Verpflichtungen verletzt. Nach Erkenntnissen der US-Geheimdienste sollte dort mit einem Atomreaktor nordkoreanischer Bauart Plutonium zum Bau von Waffen hergestellt werden.
Der Sicherheitsrat könnte Sanktionen verhängen, wie er es im Falle des Irans bereits mehrfach getan hat. Da die Vetomächte China und Russland dies aber bereits abgelehnt haben, ist nach Einschätzung von Diplomaten kaum mit einem Sanktionsbeschluss zu rechnen.
Autorin: Eleonore Uhlich (afp,dpa,rtr)
Redaktion: Reinhard Kleber