Tägliches Computerspielen - wie viel ist normal?
2. März 2011Seit ein paar Jahren gibt es am Berliner Krankenhaus Charité eine Arbeitsgruppe Computerspielsucht. An einem Sonntagmorgen hat die AG gemeinsam mit dem Maxim Gorki Theater zu einer Informationsveranstaltung geladen. Ein bunt gemischtes Publikum strömt ins Foyer. Junge Männer zwischen 15 und 20 Jahren, Väter, Mütter, weißhaarige Senioren. Jonas ist 15, lehnt betont cool an einer dicken Steinsäule und redet mit seinem jüngeren Bruder.
Vater und Mutter sind auch dabei, haben ihren Sohn zu der Veranstaltung verpflichtet. Jonas spielt zu viel - sagen sie. "Kommt ganz darauf an", sagt Jonas. "In der Schulzeit sind es ein bis zwei Stunden am Tag, manchmal gar nicht." Mehr werde es nur, wenn das Spiel neu sei. Dann könne es Jonas auch mal passieren, dass er fünf Stunden durchspiele und erst aufhöre, "wenn der Hintern weh tut, oder ich was essen muss". Ob das schon Sucht ist oder suchtähnlich, will Jonas' Vater Jochen Dachmann für sich klären. Außerdem will er sich grundsätzlich informieren über mögliche Abhängigkeiten, denn "schließlich hat man ja als Erwachsener auch Süchte", meint er.
Vor allem Jungen und Männer betroffen
Mit federnden Schritten, die langen braunen Haare zum strengen Knoten gebunden, betritt Chantal Mörsen die Bühne des Maxim Gorki Theaters. Die zierliche Psychologin leitet seit Jahren an der Berliner Charité die Arbeitsgruppe über Computerspielsucht. Ihren Vortrag ergänzt sie deshalb immer wieder durch Geschichten aus der Praxis. Mörsen berichtet von körperlichen Entzugserscheinungen, die Computersüchtige bekommen, wenn sie aufhören wollen. Von Schweißausbrüchen, nervösen Attacken und Schlafstörungen. Sie erklärt, dass vor allem Jungs und Männer von der Sucht betroffen sind, weil Online-Schlachten, Video-Autorennen und fantastische Konkurrenzkämpfe Frauen nur selten ansprechen. Allerdings ist die Industrie gerade dabei extra Spiele für Mädchen zu entwerfen.
Suchtgefahr online
Chantal Mörsen weiß, warum Online-Rollenspiele wie "World of Warcraft" so besonders gefährlich sind: weil sie 24 Stunden gespielt werden können und niemals zu Ende sind. Und weil "die Spielewelten so angelegt sind, dass man ständig kleine Ziele erreichen muss, für die es unmittelbar kleinere Belohnung gibt". Der Spieler mache ständig positive Erlebnisse und vergesse umso schneller die Zeit.
Nach der Veranstaltung wird Chantal Mörsen im Zuschauerraum von einigen Interessierten umlagert. Eine Mutter will zum Beispiel wissen, ob ihr zwölfjähriger Junge gefährdet ist. Die Antwort: Ein bis zwei Stunden Spielen am Tag seien heutzutage normal, erst wer täglich vier Stunden zocke und die Kontrolle über sein Spielverhalten verliere, sei in Gefahr.
Wichtig sei, so Mörsen, dass die Kinder das Aufhören bewusst erlernten. Lieber sollen sie zwei Mal am Tag eine Stunde spielen und dann auch zwei Mal aufhören müssen als längere Zeit am Stück. Grundsätzlich gefährdet seien vor allem Menschen, die im echten Leben wenige Erfolge hätten, ein geringes Selbstwertgefühl hätten und nur schwer soziale Kontakte knüpfen könnten. Die wenigen Studien, die es zur Computerspielsucht gibt, zeigten, dass vor allem solche Jungen sich in die Online-Spielwelt flüchten.
18 Stunden vor dem Computer
Zlatko Enev hat genau dieses getan. Der 50-jährige Bulgare war längere Zeit computerspielsüchtig. Dabei gehört Enev, der mit seiner runden Brille, den buschigen Augenbrauen und dem Dreitagebart wie ein typischer Intellektueller aussieht, überhaupt nicht zur Zielgruppe. Zlatko ist 50, Doktor der Philosophie, Vater von zwei Kindern und Autor mehrerer Bücher.
"Drei Monate war ich total abhängig von 'World of Warcraft'", sagt Enev und schüttelt noch immer verwundert über sich selbst den Kopf. Er sei damals in einer persönlichen Krise geweseb, flüchtete unbewusst in die Fantasiewelt. An manchen Tagen verbrachte er 18 Stunden vor dem Computer, vernachlässigte Arbeit, Wohnung, sich selbst und die beiden Kinder. Dabei wollte doch eigentlich nur sein 13-jähriger Sohn mal ein bisschen WoW - wie das Spiel in der Szene genannt wird - ausprobieren, sagt Enev.
"Du stinkst selbst"
Er erinnert sich noch gut an die Verlockungen des Spiels: An die vielen neuen Welten, die er kennengelernt hat, die neuen magischen Kräften, die er plötzlich hatte, die echten Mitspieler, die ihrerseits irgendwo an den Rechnern saßen und auf ihn warteten. Aber auch an den Tag, als er seinem Sohn vorwarf, er würde stinken. Und dieser nur antwortete: "Du stinkst selbst." Das war sein Tiefpunkt. Enev stank nicht nur, er nahm auch mehrere Kilo zu, weil er sich nur noch von Junkfood ernährte, kaum noch schlief, sich selbst hasste. "Ich konnte dieses Ding nicht loswerden. ich war mittendrin in der Droge. Ich hatte absolut jedes Gefühl von Selbstachtung verloren“, erzählt Zlatko Enev heute rückblickend.
Obwohl ihm das alles während der Suchtphase klar war, brauchte Enev drei Monate um aufzuhören. Eines Morgens löschte er die Software und hat das Spiel seitdem nicht wieder angerührt. Viele Spielsüchtige schaffen diesen Schritt - anders als Enev - nicht alleine, Therapien bekommen nur die wenigsten. Computerspielsucht wird von deutschen Krankenkassen nicht als Diagnose anerkannt.
Autorin: Svenja Pelzel
Redaktion: Klaudia Prevezanos