1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Typisch Deutsch? Der "Tatort" im Kino

Sarah Judith Hofmann 3. Februar 2016

Kaum etwas ist den Deutschen so heilig wie der Sonntagabend: Da wird "Tatort" geschaut. Jetzt bringt Til Schweiger den TV-Krimi ins Kino. Und krempelt sämtliche Regeln um - zehn heilige "Tatort"-Regeln.

https://p.dw.com/p/1HpHW
Tschiller: Off Duty Film
Bild: Warner Bros.

Er ist schnell, actiongeladen und bewegt sich auf internationalem Parkett – der neue Til-Schweiger-Film "Tschiller: Off Duty". Offiziell ist das ein Teil der "Tatort"-Krimireihe, denn Schweiger spielt wie sonst im Fernsehen den Hamburger Kommissar Nick Tschiller. Ansonsten ist alles gar nicht "typisch Tatort". Tschiller ist in Moskau und Istanbul unterwegs - mit viel Action. Das erinnert eher an James Bond als an die anderen deutschen "Tatort"-Kommissare. Die Ausnahme: Götz George. Der war als "Tatort"-Kommissar Schimanski auch ein Draufgängertyp und der einzige, der es vor Schweiger ins Kino schaffte. Das war 1985.

Diesmal aber taucht weder im Vorspann, im Filmtitel, noch auf Plakaten das für viele Deutsche beinah sakrale Fernsehwort "Tatort" auf. Ein klarer Verstoß gegen die heiligen zehn Tatort-Regeln:

1. Der Vorspann

Sonntagabend, 20.15 Uhr in Deutschland: Im Anschluss an die Tagesschau erklingt – beinah dem Gottesdienst gleich – eine Melodie, die jeder Deutsche kennt und am liebsten gleich mitsummt. Es ist die inzwischen herrlich aus der aus der Zeit gefallene Jazzmusik von Klaus Doldinger. Erstmals 1970 zur allerersten Folge des Tatorts ausgestrahlt, wurde sie seither nur zwei Mal – und zwar sehr behutsam – modifiziert. Dazu die in einer scherenschnittartigen Graphik davonlaufenden Beine eines Unbekannten – very oldschool!

Eins ist klar: In Deutschland genießt der Vorspann längst Kultstatus. Bei "Tschiller: Off Duty" fehlt er. Dabei ist dies doch der einzig wirkliche Fixpunkt eines jeden Tatorts – und zwar seit 1970!

2. Die Tradition

Die genannte Jahreszahl muss man sich noch einmal auf der Zunge zergehen lassen: 1970. Noch länger läuft im deutschen Fernsehen – vielleicht auch das kein Zufall – nur das Wort zum Sonntag, das jede Woche ein anderer Pfarrer oder eine andere Pastorin spricht. Der "Tatort" aber ist die am längsten laufende Krimireihe im "deutschsprachigen Raum". Was meint: Auch in Österreich (seit 1971) und der Schweiz (mit Unterbrechung seit 1991).

3. Lokalkolorit

Jede Woche spielt der Tatort in einer anderen Region Deutschlands. Mal in Hamburg (Til Schweiger), mal in Köln, mal in Berlin, aber auch in Saarbrücken oder Ludwigshafen (in Frankreich beispielsweise spielt so gut wie jeder Krimi selbstverständlich in Paris oder dem Klischee nach verruchten Marseille). So ist der "Tatort" eine Ausgeburt des deutschen Föderalismus: Jede Woche hat ein andere Sendeanstalt der ARD die Hoheit. Mal der westdeutsche Rundfunk (WDR), mal der norddeutsche (NDR), mal der hessische (HR), usw. Und natürlich legt jeder Sender Wert darauf, viel Lokalkolorit zu verbreiten. Kein Kölner "Tatort" vergeht ohne dass Kommissar Freddi Schenk und Max Ballauf noch ein Kölsch bei der Currywurstbude am Rhein trinken. Während der Dortmunder Ermittler Peter Faber lieber zu Pils und Pommes am Dortmunder Hafen greift.

Götz George, Foto: dpa
Der einzige, der es mit dem "Tatort" auch schon ins Kino schaffte: Götz GeorgeBild: picture-alliance/dpa

4. Die Imbissbude

Die Imbissbude gehört zu jedem Tatort wie der Ketschup auf die Pommes. Während die amerikanischen Kollegen der CSI-Krimis (die es übrigens in zwei Orten gibt: Miami und Las Vegas), ihre Fälle natürlich abends noch an der Bar besprechen, gehen die deutschen Kommissare zum Imbiss. Essen wird ohnehin – wohl auch das ziemlich deutsch – eher selten gezeigt. Wenn es ums Essen geht, dann maulen die Kommissare gerne über den meist fettigen und recht ungenießbaren Fraß ihrer Kantinen. Die meisten Gespräche der Ermittler finden aber ohnehin an einem anderen Ort statt …

5. Das Auto

… natürlich: im Auto! Dem liebsten Fortbewegungsmittel der Deutschen. Während der Münsteraner Pathologe Karl-Friedrich Börne, der beim Arbeiterkind Kommissar Frank Thiel als hochnäsiger Oberschicht-Akademiker unten durch ist, stets Sportwagen fährt, bevorzugt Klara Blum am Bodensee silberne Mercedes-Modelle des C-Klasse. Die US-Oldtimer des Kölners Freddi Schenk sorgen regelmäßig für Pointen im Krimi und der ziemlich verschrobene Dortmunder Faber fährt einen Saab 900. Die Botschaft ist eindeutig: Das Auto ist Teil der deutschen Seele.

6. Die Kommissare

Die Kommissare unterscheiden sich stark. Aber die meisten von ihnen sind wohl eher Antihelden. Sie sind häufig alleinerziehend, beziehungsunfähig (darin ähneln sie vielleicht vielen schwedischen Ermittlern), haben nicht selten schiefe Zähne oder einen kleinen (oder auch größeren) Bauchansatz, mit dem sie umbeholfen Verdächtigen hinterher sprinten. All das gäbe es in den meisten französischen, italienischen oder amerikanischen Krimireihen wohl nicht.

Tatort Berlin Boris Aljinovic und Dominic Raake
Von Berlin über Dortmund bis München: Der "Tatort" spielt jede Woche woanders. Hier die Berliner Kommissare.Bild: picture-alliance/SCHROEWIG/CS

Eine Frauenquote hat sich – ohne dass dies je so benannt wurde – im "Tatort" längst durchgesetzt. Ungefähr gleich viele Frauen wie Männer ermitteln, gerne auch im gemischten Doppel. Und: Wir sehen Frauen jenseits der 40 in Hauptrollen!

7. Twitter-Mania

International gelten die Deutschen eher als Twitter-Skeptiker. Pünktlich am Sonntag um 20.15 Uhr legen sie richtig los. Dann bricht die Twitter-Flut los:

Bald darauf folgt in den deutschen Twitter-Accounts dann – zumindest im Vergleich zu den amerikanischen Dauer-Twitterern – wieder Ebbe.

8. Das gemeinschaftliche Fernseherlebnis

Spätestens seit der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 haben die Deutschen das "Public-Viewing" entdeckt (übrigens ein typisch deutscher Anglizismus wie das "Handy", den man im Englischen lieber nicht gebrauchen sollte). Und so wird seit einigen Jahren auch der Sonntagabends-Krimi im Rudel geguckt. Längst hat sich auch daraus eine eigene Subkultur entwickelt, in dem "die kultigsten Tatort-Kneipen" ausgetauscht werden. Schließlich ist es ein Teil des Spaßes, sich – wie auch das Twittern zeigt – darüber aufzuregen, wie schlecht gerade mal wieder die Pointen sitzen, wie schräg das neue Ermittlerteam gegenüber dem alten ist, wie innovativ die Regie ist oder tatsächlich über das angesprochene soziale Thema zu diskutieren.

9. Der gesellschaftliche Auftrag

Passend zum Sendeauftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland, hat auch der "Tatort" einen gesellschaftlichen Auftrag, ja eine sozialkritische Dimension. Und so werden nicht selten Themen wie Zwangsprostitution, Drogenhandel, Rassismus oder die Untiefen der deutschen Asylpolitik behandelt. Hinterher wird dann häufig nicht nur in der Kneipe, per Twitter oder dem heimischen Sofa weiterdiskutiert, sondern dies wird auch institutionalisiert: In der darauf folgenden politischen Talkrunde, früher bei Günther Jauch, heute bei Anne Will sollen die wahren Hintergründe besprochen werden.

10. Der Tatort-TÜV

Natürlich müssen die Fakten noch einmal überprüft werden – ganz nach deutscher Spießbürgerlichkeit. Das gilt nicht nur für die Fakten im "Tatort" – die deswegen lange nicht immer stimmen (Staatsanwälte übernehmen seit Jahren eifrig Aufgaben, die sie in der Realität nie ausführen würden) – , sondern auch für die Fakten über den "Tatort". Und so gibt es mittlerweile auch eine Doktorarbeit zum Thema "Leichendarstellung im Tatort" und seit 2010 ein "Tatort"-Lexikon. Nein, gemeint ist nicht wikipedia, sondern tatsächlich ein gedrucktes Buch. Passend zur guten alten Tradition. Die hört auf jeden Fall mit "Tschiller: Off Duty" erst einmal auf. Denn Til Schweigers Kino-Tatort kann wohl erst in die nächste Auflage aufgenommen werden.

Szene aus einem "Tatort" von 1977
Das "gemischte Doppel" gehört seit jeher zum "Tatort". Hier Nicole Heesters und Klaus Höhne als Kommissare, 1977.Bild: picture-alliance/dpa