Tweets gegen die Scham
16. Oktober 2017#metoo - mit dem Hashtag, der schlicht "ich auch" bedeutet, dokumentieren zehntausende Frauen weltweit, dass auch sie sexueller Belästigung oder sexueller Gewalt zum Opfer gefallen sind. Gestartet hat die Welle die US-amerikanische Schauspielerin Alyssa Milano. Hintergrund der Aktion ist der Missbrauchsskandal um den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein. Er war nach Vorwürfen sexueller Belästigung in vielen Fällen von seinem Studio gefeuert und von der US-Filmakademie hinausgeworfen worden.
Vor dem Hintergrund des Falles machen Betroffene jetzt über den Kurznachrichtendienst Twitter mobil. Sie wollen zeigen, dass Weinstein alles andere als ein Einzelfall ist, und dass die Zahl der Opfer sexueller Gewalt oder Belästigung gewaltig unterschätzt wird - weil die Opfer oft nicht den Mut aufbringen, über ihre Erlebnisse zu sprechen. In der relativen Anonymität des Netzes, vor allem aber in großer Zahl soll ihnen das leichter fallen.
Die Autorin Jana Petersen im per Email geführten DW-Interview: "Wie die Kampagne #metoo sichtbar macht, sind es unfassbare Prozentzahlen an Menschen, die sexuellen Missbrauch oder sexuelle Übergriffe erfahren haben. Geschehenes ans Licht zu holen ist ein gutes Mittel gegen Scham."
Petersen weiter: "Im Prinzip ist Scham nichts anderes, als die Angst, aus einer Gruppe ausgeschlossen zu werden. Da sich Scham auf das gesamte Wesen auswirkt, ist sie gefährlich. Sie lähmt, hindert am Handeln."
Vor #metoo kam der #aufschrei
#metoo ist nicht der erste Hashtag, unter dem Frauen von sexueller Gewalt berichten. Im Jahr 2013 ging ein #aufschrei zuerst durch Twitter und dann durchs ganze deutschsprachige Netz. #aufschrei wurde zum ersten Hashtag, der mit einem Grimme Online Award gewürdigt wurde.
Die Autorin und Feministin Anne Wizorek, die als erste unter diesem Hashtag twitterte, sieht das Problem, das in der kurzen Aufmerksamkeitsspanne der Netzöffentlichkeit liegt. Sie empfindet es im DW-Gespräch als sehr frustrierend, "dass wir oft nicht darüber hinaus kommen, über die schrecklichen Taten an sich zu sprechen - wo wir sie ja eigentlich einordnen müssten in den gesellschaftlichen Kontext: Was ist der gesellschaftliche Nährboden, das gesellschaftliche Klima, das immer wieder dazu führt, dass Frauen, die sich melden und solche Taten bekanntmachen, dafür auch noch angegriffen werden?"
Der in Berlin lebende britisch-ugandische Schriftsteller Musa Okwanga beobachtet die Diskussion mit Interesse. Dass eine Kampagne wie #metoo nur eine kurze Wirkungsdauer hat, glaubt er nicht: "Die Frauen, die unter diesen Hashtags schreiben, werden es nie vergessen. Sie werden nicht vergessen, wieviel Kraft es sie gekostet hat, das Wort zu ergreifen oder die Geschichten anderer zu lesen. Es sind die Männer, die es vorziehen zu vergessen, dass so ziemlich jede Frau, die sie kennen, im Laufe ihres Lebens entweder sexuell belästigt oder angegriffen wurden. Und das ist unverzeihlich."
Nach Jahren kommt der Schmerz
Auch Jana Petersen bittet ihre Follower auf Twitter darum, #metoo als Statusmeldung zu verbreiten, und berichtet auf ihrer Facebook-Seite, wie sie im Alter von 12 Jahren von einem 40-50jährigen Nachbarn gegen ihren Willen auf offener Straße geküsst wurde. Sie schreibt über ihre Scham und ihre Schuldgefühle, die sie dazu brachten, nicht darüber zu sprechen - bis jetzt.
Im DW-Interview schreibt sie: "Ich habe nach dem Posten meiner Erfahrung sehr geweint, unvermittelt, am Küchentisch über dem Frühstück. Dieses Weinen hat etwas in mir gelöst, das ich nicht bewusst greifen konnte. Das zu teilen, die Unterstützung auch digital von so vielen anderen Menschen zu erfahren, hilft. Vielleicht fand ich es mein Leben lang eine 'Lappalie', schließlich bin ich glücklicherweise nie vergewaltigt worden. Aber heute morgen wurde ich mit dem Schmerz konfrontiert, der tief in mir saß."
Twitter mit seiner systembedingten Begrenzung auf noch 140 Zeichen kann, meint Anne Wizorek, nicht das Medium sein, um das Problem des Alltagssexismus auszudiskutieren: "Twitter ist ein Impulswerkzeug. Wir können Impulse setzen, um Debatten anzustoßen. In der Tiefe und Breite, in der sie letztendlich weitergeführt werden müssen - das muss dann auf anderen Plattformen, in anderen Medien passieren."