Tunesiens Frauen mischen sich ein
22. Oktober 2011Bochra Belhaj Hmida scheint viel Geduld für ihre Zuhörer zu haben. Die kleine Frau mit kurzen, lockigen Haaren, brauner Bluse und passendem Rock sitzt im Hof eines Landhauses in ihrer Heimatstadt Zaghouan – etwa 60 Kilometer südlich der Hauptstadt Tunis. Mit ruhiger, rauer Stimme erklärt sie die Ziele der sozialdemokratischen Partei 'Ettakatol', für die sie in diesem Wahlkreis kandidiert.
Die meisten der Anwesenden wollen wissen, wie die Partei Mitglieder des alten Regimes zur Rechenschaft ziehen will. Denn auch nach der Revolution sitzen immer noch viele von ihnen in staatlichen Schlüsselpositionen. Bochra Belhaj Hmida will dagegen lieber nach vorne blicken. Wer Schießbefehle erteilt oder öffentliche Gelder veruntreut habe, der sollte einen fairen Prozess bekommen, sagt sie. "Aber ich will niemanden verurteilen, nur weil ich einen persönlichen Konflikt mit ihm hatte oder weil wir verschiedener Meinungen sind“, fügt sie mit entschlossener Stimme hinzu. Einige Anwesende nicken zustimmend.
"Freiheit ist, das eigene Leben selbst gestalten zu können"
Bochra Belhaj Hmida ist in ihrem Wahlkreis Zaghouan eine bekannte Persönlichkeit. Wegen ihres langjährigen Engagements für die Frauenrechte hat Bochra Belhaj Hmida in der Ära des ehemaligen Diktators Zine El Abidin Ben Ali zu den am häufigsten kritisierten Frauen Tunesiens gezählt. Sie ist Mitbegründerin des Verbands Demokratischer Frauen und war mehrere Jahre lang deren Vorsitzende. Dennoch beschränkte sich ihre Arbeit damals auf die rechtliche Unterstützung von Frauen und die Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt. Eine aktive Mitwirkung im politischen Leben Tunesiens war ihr, ebenso wie vielen anderen Oppositionellen unter der Herrschaft Ben Alis nicht möglich, erinnert sich Bochra Belhaj Hmida.
Erst nach der Jasmin-Revolution Anfang 2011 sah die Anwältin die Chance, den demokratischen Wandel in ihrem Land mitzugestalten und trat der Ettakatol-Partei bei. "Dieser Schritt war keine einfache Entscheidung für mich“, sagt Bochra Belhaj Hmida heute rückblickend: "Als Frau ist meine Freiheit das Wichtigste in meinem Leben". Freiheit bedeute für sie, dass sie morgens aufwache, ohne das Gefühl zu haben, dass es jemanden gebe, der über ihren Tag bestimmt.
Damit diese Freiheit auch in der Verfassung Tunesiens verankert wird, kandidiert Bochra Belhaj Hmida für einen Sitz in der Legislative. Dabei ist sie eine der wenigen Frauen auf dem ersten Platz einer Wahlliste. Auch wenn das Wahlrecht vorschreibt, dass jeder zweite Kandidat eine Frau sein muss, sind weniger als ein Fünftel der Listenführer Frauen. In der Partei von Bochra Belhaj Hmida sind es nur neun Prozent.
Dass es bei den anstehenden Wahlen nicht nur um die Verfassung, sondern um die Mitbestimmungsrechte der Frauen geht - das weiß auch Taxifahrerin Fatima Belhedi. Die 52-jährige fährt seit 25 Jahren Taxi in den Straßen von Tunis. Auch sie ist eine der wenigen Frauen in ihrem Beruf. Auf über 30.000 Taxifahrer in der tunesischen Hauptstadt kommen gerade 350 Frauen.
Bedrohte weibliche Errungenschaften?
Fatima Belhedi steuert ihren gelben Kleinwagen deutscher Herkunft durch den dichten Verkehr der Innenstadt von Tunis. Das Taxi, das sie fährt, sieht im Vergleich zu anderen Wagen gepflegter aus. Auf dem Armaturenbrett hat die zweifache Mutter einen bunten Teppich ausgelegt. Schmuckketten und kleine Bilder verzieren den Rückspiegel ihres Taxis. Ihre Schicht dauert zehn Stunden – eine lange Zeit für einen Tagesverdienst von umgerechnet acht Euro. Ihre alltäglichen Probleme, sagt die zweifache Mutter, hätten wenig mit Frauenrechten zu tun. "Ich will eine Eigentumswohnung und einen eigenen Wagen. Nur in dieser Hinsicht bräuchte ich Unterstützung.“
Auf ihre Rechte und auf die Freiheit, die Frauen in Tunesien genießen, ist auch Fatima Belhedi stolz. "Das haben wir Habib Bourghiba zu verdanken“, sagt sie. Für den ehemaligen Machthaber Bourghiba, der als Gründer des neuen Tunesien gilt, waren die Gleichberechtigung von Mann und Frau und ein ausgewogenes Familienrecht zentrale Bausteine eines modernen, laizistischen Staates nach westlichem Vorbild. In dieser Hinsicht gilt Tunesien auch heute noch als vorbildlich in der arabischen Welt. Dass Islamisten diese Frauenrechte eines Tages wieder abschaffen könnten, kann sich Fatima Belhedi nicht vorstellen. "Bei uns kann keiner auf die Idee kommen, Frauen Autofahren zu verbieten, wie es in Saudi-Arabien der Fall ist“, sagt sie. Deshalb interessiert es sie auch nur wenig, ob und wie viele Frauen in der verfassungsgebenden Versammlung sitzen werden.
Traditionelle Sichtweise und moderne Probleme
Sie hat ganz andere Probleme. Nachdem ihr Sohn illegal nach Italien auswanderte, muss die Taxifahrerin allein für sich und ihre arbeitslose Tochter sorgen. Sie ist stolz auf ihre Freiheit als Frau, die sie erst zurück gewonnen habe, als sie sich von ihrem Mann scheiden ließ, erzählt Fatima Belhedi. Ihr Mann war Alkoholiker und hat sie immer wieder geschlagen. Trotzdem wünscht sie sich, dass ihre eigene Tochter bald einen Mann findet, der für sie sorgt. Ihr Argument: Tradition und Kultur in Tunesien erlaubten es nicht, dass eine Frau unverheiratet bleibt.
Genau diese Tradition ist es, gegen die Frauenrechtlerin Bochra Belhaj Hmida weiter zu Felde ziehen will – auch nach der Revolution in Tunesien. "Es kann nicht sein, dass die Hälfte der Gesellschaft unter Armut, Demütigung und Gewalt leidet“, sagt die Berufsanwältin gereizt. "Es ist egal, was man über Tunesien sagt und für wie freizügig man unser Land hält. Der Anteil der wirtschaftlich unabhängigen Frauen liegt bei unter 30 Prozent. Die restlichen 70 Prozent sind auf die Gnade der Gesellschaft, der Familie, des Mannes oder des Bruders angewiesen.“ Die Lösung sieht sie in einer gesetzlichen Frauenquote – in der Politik und in der Wirtschaft.
Islamistische Morddrohungen auf Facebook
Bochra Belhaj Hmida hält kurz inne. Dann erzählt sie, wie schwierig ihre Arbeit für die Frauenrechte nach der Revolution geworden ist. Früher sei sie der Repression der Staatsgewalt ausgesetzt gewesen. Heute müsse sie sich gegen viele politische Feinde durchsetzen, die sich selbst als Hüter der Traditionen verstünden und sich auch nicht scheuten, Gewalt anzuwenden. Auch Morddrohungen hat die Aktivistin schon bekommen. "Ben Ali war wie der Deckel auf einem Abwasserkanal. Als er entfernt wurde, trat viel Schmutz zu Tage“, sagt Bochra Belhaj Hmida. Mit "Schmutz" meint sie die radikal-islamischen Strömungen, die in der Ära Ben Ali verboten waren.
Auf Facebook stand Bochra Belhaj Hmida zusammen mit anderen Menschenrechtlern auf einer Todesliste, die islamistische Fanatiker veröffentlicht hatten. Um den Kopf der Aktivistin war dort per Fotomontage ein Strick gelegt. Das Bild treibt ihr noch heute Tränen in die Augen. Nach einer kurzen Pause, in der Bochra Belhaj Hmida um Fassung ringt, sagt sie: "Es gibt eine große Ignoranz über die Lage der Frauen in Tunesien. Die Leute wissen nicht, was wir alles durchgemacht haben. Und die, die es wissen, wollen unsere Geschichte leugnen.“
Vor der Revolution mussten Besucher des Verbands Demokratischer Frauen ihre Autos weit weg parken, damit keiner sie sehen konnte, sagt die 'Ettakatol'-Kandidatin. "Im neuen Tunesien soll jeder für seine Meinung eintreten können, ohne etwas befürchten zu müssen", so Bochra Belhaj. Auch aus diesem Grund besteht sie auf ihrem Bürgerrecht, die neue Verfassung mit zu gestalten.
Autor: Khalid El Kaoutit
Redaktion: Daniel Scheschkewitz