Tunesien: Kommunalwahlen in Katerstimmung
6. Mai 2018Die Zahlen sind beeindruckend: Über 57.000 Kandidaten auf mehr als 2170 Listen präsentieren sich bei den tunesischen Kommunalwahlen, in insgesamt 350 Ortschaften sollen die Stadträte gewählt werden. Repräsentieren sollen sie die Bevölkerung streng nach Proporz: 49 Prozent der Kandidaten sind Frauen, ein gutes Drittel ist unter 35 Jahren alt. So will es das neue Wahlgesetz, das vor allem eines anstrebt: dass sich die Bevölkerung in ihren politischen Repräsentanten wiedererkennt - auf nationaler, aber auch auf lokaler Ebene.
Die Kommunalwahlen des 6. Mai sind der vierte Urnengang, zu dem die Tunesier nach der Revolution von 2011 aufgerufen sind. In den Jahren 2011 und 2014 wählten sie bereits ein neues Parlament, ebenfalls im Jahr 2014 einen Präsidenten. Die Demokratie, umreißt ein Aktivist seine Einschätzung der nun anstehenden Wahlen, befinde sich im Landeflug: Nach der Wahl der obersten Staatsorgane drängt sie nun die Bewerber in den Kommunen in den politischen Wettbewerb. Da, wo die Bürger leben, müssen sie sich ihren Fragen und Anliegen stellen.
Geringe Wahlbeteiligung erwartet
Inwieweit die 5,3 Millionen Wahlberechtigten diese Chance nutzen, ist offen. Die Erhebungen des Demografie-Instituts "Sigma Conseil" lassen auf eine gewisse Zurückhaltung der Bürger schließen. Bei einer Umfrage im Februar 2018 erklärten 33 Prozent, nicht wählen zu wollen, 37 Prozent waren unentschlossen. Nicht ermutigend ist die Wahlbeteiligung der Angehörigen der Sicherheitskräfte und der Armee, die bereits Ende April ihre Stimmen abgaben. Unter ihnen fühlten sich nur 12 Prozent von dem Wahlaufruf angesprochen.
Dabei sind die Wahlen ein weiterer Schritt in Richtung verfestigter Demokratie. Nach dem Sturz des Diktators Ben Ali 2011 wurden die Kommunalräte per Dekret aufgelöst. Stattdessen regelten eigens eingesetzte Delegationen die öffentlichen Angelegenheiten. Gewählt waren sie nicht. Dieses Manko soll nun überwunden werden.
Zuvor waren die Kommunen neu zugeschnitten worden, ihre Zahl wurde erhöht - ein Schritt in Richtung Dezentralisierung, die die Autonomie der Gemeinden erhöhen soll. Mit der Autonomie steige aber auch ihre Verantwortung, schreibt das Nachrichtenmagazin "Jeune Afrique". Fortan müssten die Kommunen selbst ihre Ziele und Prioritäten festlegen. Vor allem seien sie nun den Bürgern direkt verantwortlich, das Argument mangelnder Zuständigkeit ziehe nicht mehr.
Infrastruktur, Müllentsorgung, der Kampf gegen die Korruption auf lokaler Ebene: Aufgaben wie diese liegen nun bei den Kommunen. Im Wahlkampf hatten die Kandidaten Gelegenheit zu erklären, wie sie diese Aufgaben lösen wollen.
Allerdings wurde über dieses Gesetz im tunesischen Parlament lange gestritten. Was in den Städten selbst entschieden und was weiterhin von der Hauptstadt Tunis aus geregelt werden soll - darüber konnten sie die Abgeordneten nicht einigen. So hatte man das Gesetz zur Gemeindereform gerne erst nach den Kommunalwahlen verabschiedet. "Da wurde viel herum manövriert", sagte Nesrine Jelalia von der Nichtregierungsorganisation Bawsala ("Kompass") dem Hessischen Rundfunk. "Sie hätten gern erst die Ergebnisse der Kommunalwahl abgewartet, um danach erst zu entscheiden, welche Kompetenzen und Zuständigkeiten die lokale eben bekommen soll". Solche Manöver sind nicht dazu angetan, das Vertrauen der Tunesier in ihre Parlamentarier zu stärken.
Leere Kassen
Ein noch größeres Problem ist allerdings ein anderes: Den Kommunen fehlt es an Geld. Die Staatsverschuldung lag 2017 bei 69 Prozent, die Inflationsrate bei 4,5 - eine bedrückende Lage, die auch die Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen einschränkt. Die Missstände mögen erkannt sein, doch es fehlt das Geld, sie zu beheben. Man könne das auch positiv sehen, schreibt "Jeune Afrique": "Die Wähler erwarten eine lokale Revolution, bei der das Geld nicht alles ist. Das ist die Aufgabe, die die Kandidaten annehmen müssen."
Dass die Kandidaten dieser Aufgabe gerecht werden, bezweifeln viele Tunesier. "Es reicht nicht, den Kommunen eine neue Verwaltung zu verpassen", zitiert "Jeune Afrique" einen Händler aus Bardo, einem Vorort der Hauptstadt Tunis. "Man muss den Kommunen auch die finanziellen und personellen Voraussetzungen gewähren, um angemessen arbeiten zu können. Derzeit fehlen den Kommunen diese Ressourcen, weshalb es für sie ausgesprochen schwierig ist, auch nur den Mindeststandard der kommunalen Pflichten wie etwa die Müllentsorgung einzuhalten."
Geringe Erwartungen der Wähler
Die Probleme der Kommunen spiegeln die der Bürger. Die Arbeitslosenquote liegt landesweit bei 13 Prozent, doch in manchen Regionen, vor allem im wenig belebten Zentrum des Landes, sind ein Viertel der Menschen ohne Arbeit.
"Die Hoffnung ist bei den meisten Menschen erloschen", sagt Jamel Ben Mohamed dem Nachrichtenmagazin "L´Orient le Jour". Der 61-Jährige ist eigentlich Anwalt, schlägt sich mangels Arbeitsmöglichkeiten seit über 25 Jahren als Gemüsehändler durch. "Die Menschen sind überaus pessimistisch und haben jedes Vertrauen in die Politiker verloren. Sie interessieren sie weder für die Kommunalwahlen in diesem noch für die Parlaments- und Präsidentenwahlen im kommenden Jahr."
Wenig angetan sind viele Wähler auch von der politischen Leistung der beiden führenden Parteien, der gemäßigt islamistischen Ennahda und der eher säkularen Nidaa Tounes. Beide teilen sich die Macht im Parlament in Tunis - und blockieren nach dem Dafürhalten vieler Tunesier das politische Leben des Landes. Viele derer, die am Sonntag zur Wahl gehen, sehen im Urnengang eine Möglichkeit, mit diesen Parteien abzurechnen. "Viele wollen die beiden Parteien aus den Kommunen heraushalten, um zu verhindern, dass die Probleme des Parlaments sich nun auf kommunaler Ebene wiederholen", sagt Fadhel Moussa, von 2011 bis 2014 Mitglied der tunesischen Nationalversammlung, in einem Pressegespräch.
Tatsächlich sei die starke Position im tunesischen Nationalparlament eher bei den Kommunalwahlen eher hinderlich, bestätigt Helmi Chari, der den Wahlkampf der Ennahda in der südtunesischen 40.000-Einwohnerstadt Gremda leitet. "Wir sehen die Wahl als letzte Chance, die Leute umzustimmen und wieder für Vertrauen in die tunesische Entwicklung zu sorgen", sagte er dem Hessischen Rundfunk.
Bislang aber sind die Erwartungen an die Wahlen gering. Diejenigen, die sich dennoch entscheiden, an ihnen teilzunehmen, wollen zumindest eines: ein Zeichen setzen, zur Erinnerung daran, dass es sie, die Wähler, auch noch gibt, wie es ein Tunesier bei einer Kundgebung formulierte.