Resistente Tuberkulose
26. Oktober 2012Seit rund zehn Jahren betreut Daria Ocheret Drogenabhängige in Vilnius, Litauen. Für Tuberkulose habe sie sich nie interessiert, erzählt sie, bis sie und ihre Kollegen einen besorgniserregenden Trend beobachteten: "Viele Jahre lang starben Drogenabhängige in Osteuropa hauptsächlich an einer Überdosis. Oder sie begingen Selbstmord." Vor zwei Jahren aber begann die Situation sich zu verändern, sagt sie. Heute sei die Haupttodesursache der Menschen Tuberkulose. Und sehr häufig sei es eine multiresistente Tuberkulose.
Tuberkulose (TB) – das ist für viele eine Krankheit des letzten Jahrhunderts, heute überwunden und ausgerottet. Doch die Seuche kehrt zurück, und das gefährlicher denn je: Multiresistente Erreger erschweren die Behandlung der Patienten weltweit. Seit einigen Jahren sind zudem Erreger auf dem Vormarsch, die nicht nur gegen die üblichen TB-Antibiotika resistent sind, sondern gegen nahezu alle herkömmlichen Arzneimittel. Weltweit, so schätzt die Weltgesundheitsorganisation, leiden bereits mehr als 400.000 Patienten an einer multi- oder extremresistenten Tuberkulose.
Europa ist Risikoregion für multiresistente Tuberkulose
In Europa gilt vor allem das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion als Risikoregion. Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge leben hier rund 80.000 Menschen mit einer Resistenz gegen die üblichen TB-Medikamente - rund ein Fünftel aller Fälle weltweit. Insgesamt 15 europäische Staaten gelten als Hochrisikoländer, darunter Russland und die Ukraine, Weißrussland, Bulgarien, Moldawien und das Baltikum.
Unzureichende Diagnostik unterstützt Ausbreitung multiresistenter Erreger
Tuberkulosepatienten bekommen in der Regel vier bis fünf Antibiotika, die sie rund ein halbes Jahr lang einnehmen müssen. Resistenzen entstehen vor allem, wenn die Patienten die Medikamente nicht konsequent einnehmen oder die Behandlung vorzeitig abbrechen. Liegen Resistenzen vor, können bis zu 17 Tabletten täglich nötig werden, mit Nebenwirkungen bis hin zu Taubheit, mit unsicherer Aussicht auf Heilung und mit Kosten, die mehrere hundert mal höher als die einer normalen Tuberkulosebehandlung sein können. Wird auch multiresistente Tuberkulose unsachgemäß behandelt, droht die Entstehung extrem resistenter Erreger.
Nötig wäre daher vor allem eine effektive Überwachung, sagt Andrei Dadu vom Europabüro der WHO - sowohl der Menschen mit Tuberkuloserisiko, als auch derer, die in Behandlung sind und derer, die schon einmal in Behandlung waren. Allerdings: "Die Zahl der tatsächlich bekannten Fälle resistenter Tuberkulose liegt noch immer auf einem sehr niedrigen Niveau. Aber wenn wir die betroffenen Menschen nicht entdecken, dann bewegen sie sich unter uns, ohne zu wissen, dass sie andere Leute anstecken können." Man müsse deshalb viel mehr in Diagnosetechnik in den Risikoländern investieren, fordert Dadu.
Mehr als 400 Millionen US-Dollar hat die WHO 2011 allein für die Tuberkulose-Risikoländer in Europa zur Verfügung gestellt - unter anderem für die Anschaffung von Diagnosegeräten, die die Erreger innerhalb von Stunden per DNA-Analyse identifizieren. Bis 2015 soll das Budget auf knapp zwei Milliarden Dollar angehoben werden. Der Globale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria bewilligte Ende 2011 dafür eine ähnliche Summe. Dennoch: Weniger als ein Drittel der vermuteten Fälle multiresistenter Tuberkulose werden entdeckt und wiederum nur zwei Drittel der entdeckten Fälle werden auch adäquat behandelt. Neben Diagnosetechnik fehlen Krankenhausbetten und Labors, in denen untersucht werden kann, welche Medikamente bei Patienten überhaupt wirksam sind.
Zivilgesellschaft ist in den Kampf gegen Tuberkulose zu wenig einbezogen
Oft, so Daria Ocheret, fehle es auch an Einsicht in die sozialen Ursachen von Tuberkulose – an der Bereitschaft etwa, HIV-Positive, Häftlinge und Drogensüchtige als Teil der Gesellschaft zu akzeptieren. "Fast jeder, der in den letzten Jahren in Russland an Tuberkulose gestorben ist, war HIV-positiv und drogenabhängig," sagt Ocheret. So sei es einfach zu erklären, warum diese Leute nicht diagnostiziert und behandelt wurden: Drogen sind illegal und Süchtige müssen Angst haben, ins Gefängnis zu kommen. Also versuchen sie, jeden Kontakt zu Ärzten zu vermeiden. Und selbst wenn sie in ein Krankenhaus kommen, dann heißt das in Russland: ein halbes Jahr stationär, ohne Drogen, ohne Substitution. Die Folgen, hat Daria Ocheret gestgestellt, sind kontraproduktiv: "Da hauen viele natürlich ab! Oder man wirft sie raus, weil sie doch mit Drogen erwischt werden. So unterbrechen die Leute die Behandlung und erhöhen das Risiko, eine multiresistente Tuberkulose zu entwickeln und zu verbreiten."
Eine Lösung hat Ocheret auch schon parat: Relativ einfach wäre es etwa, die Hilfe für Drogensüchtige an eine Tuberkulosebehandlung zu koppeln. Wer regelmäßig in eine Ambulanz kommt, um sich Methadon zu holen, dem könnten dort auch regelmäßig Tuberkulosemedikamente verabreicht werden. Doch ein gemeinsamer Vorschlag verschiedener Initiativen zur Drogenprävention, unter anderem in der Ukraine, Russland und Weißrussland, scheiterte bisher an den zum Teil noch aus Sowjetzeiten stammenden Strukturen im Gesundheitswesen der Länder.
Auch in Ländern Zentralasiens wie Aserbaidschan oder Kasachstan fehle oft der politische Wille, im Kampf gegen Tuberkulose über bestehende Maßnahmen hinauszugehen, kritisiert die WHO. Ende des Jahres will der Globale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose seine Kriterien zur Mittelvergabe mehr an der Belastung eines Landes durch Tuberkulose und am Durchschnittseinkommen der Bevölkerung orientieren.