Religiöser Fanatismus in Tschetschenien
25. Januar 2018Hoch sind die Mauern in Gekalov, einem Vorort von Grosny. Trotzdem hat man hier kaum Geheimnisse voreinander, in dieser typisch tschetschenischen Siedlung. Man kennt sich, man hilft sich, seit Generationen ist es so. Über eine Sache aber redet man lieber nicht mit den Nachbarn: über die vermissten Kinder.
Wie viele es inzwischen sind, weiß niemand so genau. Jedes einzelne ist zu viel. Bei Petimat Salamowa ist es Salina. Seit mittlerweile vier Jahren ist die Tochter verschwunden.
Auch Petimat Salamowa hat hinter ihren hohen Hausmauern geschwiegen. Lange. Ganze vier Jahre. Jetzt bricht sie ihr Schweigen. Sie erzählt von ihrer Tochter, die vor vier Jahren das Elternhaus verließ, um ihrem Ehemann zu folgen. Ihrem Ruslan.
Ruslan ging nach Syrien, um für den so genannten Islamischen Staat zu kämpfen. Warum? "Ich weiß es nicht. Er war aber ein guter Junge", erzählt Salamowa. "Er hat immer im Haushalt geholfen. Er war religiös. Ich weiß nicht, was er in Syrien wollte. Ich glaube einfach, dass er betrogen wurde. Diese bösen werbovschiki haben ihn betrogen, die Anwerber. Sie sind schuld."
Hunderte Tschetschenen in IS-Reihen
Mittlerweile ist Ruslan Gadschiew tot. Wo Salina aber bleibt, weiß Salamowa nicht. "Er nahm meine Tochter und ihre gemeinsamen drei Kinder mit. Ich weiß, dass Ruslan nie wieder kommen wird, weil er im März letzten Jahres getötet wurde."
Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz. Die Dunkelziffer dürfte höher sein. Manche von ihnen sind als vermisst gemeldet. Von den anderen wissen die Behörden nicht einmal, dass sie weg sind. Das erzählt Said Maschaew, einer der Rückkehrer. Auch sein Verschwinden blieb unbemerkt.
Warum aber gehen so viele junge Tschetschenen überhaupt zum IS? Die russische Terrorismus-Expertin Elena Suponina vom Moskauer Institut für strategische Forschungen nennt eine ganze Reihe von Gründen: "Hohe Arbeitslosigkeit, soziale Unzufriedenheit, unerfüllte Hoffnungen treiben viele in der Region zu einer der perversesten Formen des Islams - in die Hände der Dschihadisten."
Tschetschenen bei Islamisten besonders beliebt
Der unabhängige Militärexperte Pavel Felgenhauer in Moskau verweist auf die koordinierte Aktion russischer Geheimdienste im Vorfeld der Olympischen Spiele in Sotschi 2014. Damals, so Felgenhauer, seien viele Extremisten im Rahmen der Sicherheitsmaßnahmen "massiv aus dem Land verdrängt und vom IS wie von einem Staubsauger aufgesaugt worden." Doch jetzt, wo der IS nahezu sein gesamtes Territorium verloren hat, "könnte dieser Staubsager auch in eine umgekehrte Richtung arbeiten und die Terroristen ausspucken", meint Felgenhauer.
Den Anwerbern des IS fällt es offenbar nicht schwer, in Tschetschenien und angrenzenden kaukasischen Republiken Kämpfer zu rekrutieren. Trotz der Überwachung der Bürger durch den Staat und durch seine Geheimdienste. Trotz der demonstrativen Treue des tschetschenischen Republikchefs Ramsan Kadyrow gegenüber dem Kreml und dem Kreml-Chef Wladimir Putin.
Tschetschenien, nach den blutigen Kriegen gegen Russland in den 90er Jahren mit viel Geld aus Moskau komplett neu aufgebaut, wurde zu einem der Brennpunkte des religiösen Fanatismus. Die Republikführung will das nicht wahr haben. Das seien ja auch gar keine Tschetschenen, beteuert Republikchef Ramsan Kadyrow in einem Fernsehinterview. Sie hätten ihre Pässe einfach gefälscht.
Der ehemalige IS-Soldat Said Gadschiew deutet es anders: "Wir Tschetschenen sind beim IS sehr beliebt. Wir haben viele Kriege durchgemacht."
Selbsthilfegruppe Angehöriger mit 800 Mitgliedern
Said Gadschiew sagt, er habe nicht gewusst, dass er zu Terroristen ging. Er sagt, er habe die Würde der Sunniten in Syrien verteidigen wollen, im Namen des wahren Islam. Tschetschenen sind Sunniten wie die meisten Syrer auch.
Auf die Frage ob der junge, schmächtige Mann aus Grosny in Syrien eine eigene Waffe trug und womöglich Menschen tötete, antwortet er mit einem 'Nein'. Und fügt nach einer kurzen Pause zu: "Zumindest habe ich es nicht gesehen."
Als er eines Morgens zusehen musste, wie seine 'Kameraden' eine ganze Gruppe männlicher Schiiten köpfte, beschloss der Tschetschene, aus Syrien zu fliehen, sagt er. Erst Monate später sei ihm tatsächlich die Flucht gelungen. Weil er eine Verletzung hatte, konnte er zur medizinischen Versorgung in die Türkei reisen. Von dort floh er zurück nach Grosny.
Er habe nach der Rückkehr zunächst unentdeckt leben können. Irgendwann hätten die Behörden erfahren, wo er war. Gadschiew stellte sich freiwillig der Polizei und musste am Ende acht Monate in Haft.
Jetzt sitzt er mit Petimat Salamowa, die ihre Tochter in Syrien verzweifelt sucht, in einem kleinen Büro in Grozny. Hier trifft sich eine Selbsthilfergruppe von Menschen, die ihre Töchter, Söhne, Brüder, Schwestern, Enkelkinder vermissen. Die Gruppe hat mittlerweile mehr als 800 Mitglieder - Tschetschenen, Dagestaner, Russen und andere Nationalitäten. In diesem engen Büro reden alle offen über ihre vermissten Kinder. Hier gibt es keine hohen Mauern.
Ob Petimat Salamowa auf Männer wie Said Gaschiew böse ist, weil sie nach Syrien gehen und ihre Töchter mitnehmen, so wie auch ihr mittlerweile toter Schwiegersohn? "Nein” sagt sie. "Es geschieht alles nach dem Willen Allahs." Sie weint und hofft, dass Allah ihre Tochter Salina am Leben lässt.