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Politik

Im Kampf gegen Corona zählt jedes Kilo

Luboš Palata
12. April 2021

In der Tschechischen Republik sterben - bezogen auf die Einwohnerzahl - die meisten Menschen weltweit an COVID-19. Ein Grund dafür ist die weit verbreitete Fettleibigkeit.

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BdTD Tschechien Protest gegen die Corona-Politik in Prag
Prag, März 2021: Protest gegen nicht wirksame Corona-Schutzmaßnahmen der Regierung mit tausenden gemalten KreuzenBild: Petr David Josek/AP Photo/picture alliance

Bei den Corona-Todesfällen ist die Tschechische Republik Weltmeister: Nach offizieller Statistik des tschechischen Gesundheitsministeriums starben bis Ende der zweiten Märzwoche 27.918 Menschen an bzw. mit COVID-19; und täglich sterben mehr als hundert weitere. "Basierend auf wissenschaftlichen Schätzungen ist die tatsächliche Opferzahl noch mindestens um ein Drittel höher", meint Professor Jan Konvalinka, Vizerektor der Karlsuniversität in Prag.

Gleichzeitig bietet Tschechien eine relativ hochwertige Gesundheitsversorgung, eine Wirtschaftsleistung, die nahe am EU-Durchschnitt liegt, geringe soziale Unterschiede und den zweithöchsten Lebensstandard im postkommunistischen Europa. Wie passt das zu den vielen COVID-19-Todesfällen?

Infografik Länder mit der höchsten COVID-19-Sterberate DE

Die meisten Experten und Analysten in Tschechien geben die Schuld für den katastrophalen Verlauf der Pandemie der populistischen Regierung unter Führung des Oligarchen Andrej Babiš. "In einer Situation, in der andere Länder einen Lockdown ankündigten, wurde in Tschechien gelockert. Das geschah sowohl nach den letzten Sommerferien als auch vor Weihnachten. Und jetzt denkt die Regierung schon wieder darüber nach", kritisiert etwa Václav Hořejší, Immunologe der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, im tschechischen Fernsehen.

Weitere Gründe für die hohen Corona-Todeszahlen seien zu schwache Kontrollen der geltenden Pandemie-Beschränkungen, eine unzureichende Rückverfolgung infizierter Personen, zu wenig Corona-Tests und zudem neuerdings die immer raschere Ausbreitung der ansteckenderen und gefährlicheren britischen Mutation des Virus.

"Führend" bei Alkohol, Marihuana und Zigaretten

Expert*innen zufolge trägt jedoch auch der insgesamt ungesunde Lebensstil vieler Tschech*innen zu den hohen Corona-Zahlen bei. Mit fast 200 Litern pro Person und Jahr steht das EU-Land beim Bierkonsum weltweit an erster Stelle. Tschechien ist auch "europäischer Marktführer" bei der Verbreitung von Marihuana unter jungen Menschen. Und auch beim Rauchen sind die Bürger*innen der Tschechischen Republik in Europa "führend".

Zigarettenkippen
Achtlos auf den Boden geworfene Kippen neben einem Bürogebäude in PragBild: picture-alliance/W. Steinberg

In Zeiten von COVID-19 zeigen sich zudem die gesundheitlichen Folgen der stark verbreiteten Fettleibigkeit im Land. 57 Prozent der Frauen und 71 Prozent der Männer in Tschechien sind übergewichtig, womit die Tschech*innen auch an dieser Stelle Nummer Eins in der Europäischen Union sind. Wissenschaftliche Studien, die von der "World Obesity Federation" (Internationale Föderation zur Erforschung der Fettleibigkeit) zitiert wurden, haben nach den ersten Monaten der Pandemie gezeigt, dass ein klarer Zusammenhang zwischen Übergewicht und dem Risiko besteht, an bzw. mit COVID-19 zu sterben.

Acht von zehn COVID-19-Patient*innen sind übergewichtig

"Wir waren schockiert, einen so hohen Zusammenhang zwischen dem Anteil übergewichtiger Erwachsener im Land und den Todesfällen durch COVID-19 zu entdecken", sagte der englischen Tageszeitung "The Guardian" der Hauptautor des Berichts, Dr. Tim Lobstein. "Der Zusammenhang zwischen Fettleibigkeit und Sterblichkeitsrate bei COVID-19 ist klar und ernst", kommentierte Tedros Adhanom Ghebreyesus, Direktor der Weltgesundheitsorganisation.

Tschechien Prag | Proteste gegen Corona-Maßnahmen
Prag, Januar 2021: Protest gegen zu strenge Corona-Schutzmaßnahmen der Regierung mit brennenden Kerzen in BiergläsernBild: Vit Simanek/CTK/dpa/picture alliance

Auch in Tschechien versuchen Ärzte, die Bevölkerung vor dem Risiko von Übergewicht und Fettleibigkeit bei COVID-19 zu warnen. "Leider ist die Tschechische Republik einer der Rekordhalter in Bezug auf Fettleibigkeit in Europa", so Ladislav Dušek, Leiter des nationalen Instituts für Gesundheitsinformation und -statistik, gegenüber der DW. "Achtzig Prozent der ins Krankenhaus eingelieferten Corona-Patienten sind fettleibig oder übergewichtig."

Ein Bauch als "erhebliches Risiko"

"Die Übergewichtigen sind am stärksten betroffen", sagte Martina Vašáková, Leiterin der Lungenheilkundeklinik am Thomayer-Universitätsklinikum in Prag, im tschechischen Rundfunk. "Dabei begann die Pandemie vor einem Jahr und seitdem hat jeder, der übergewichtig ist, die Möglichkeit, das Risiko einzuschätzen, das er angesichts von COVID-19 tragen möchte. Jeder hätte zig Pfund abnehmen können. Leider stelle ich fest, dass die Menschen stattdessen gestresst sind und ihr Gewicht zunimmt."

Coronavirus Europa | Tschechien Covid-19 Patient in Klinik
Prag, März 2021: Ein an COVID-19 erkrankter Patient auf der Intensivstation des Thomayer-UniversitätsklinikumsBild: Ondrej Deml/CTK/dpa/picture alliance

Vašáková zufolge ist bereits der Grad der Fettleibigkeit, der in der Tschechischen Republik bei Männern und Frauen als "normal" gilt, gefährlich. "Ein Bauch ist bei Männern und Frauen ein erhebliches Risiko", sagt Vašáková.

Hoffen auf Lockerungen und besseres Wetter

"Mit Fettleibigkeit wächst das Risiko, überhaupt an COVID-19 zu erkranken, sehr stark", sagt auch der Fettleibigkeitsforscher Jozef Čupka in der tschechischen Tageszeitung "Deník N". "Wenn eine übergewichtige Person krank wird, besteht ein deutlich höheres Risiko, ins Krankenhaus eingeliefert zu werden. Und wenn man ins Krankenhaus eingeliefert wird, besteht ein viel höheres Risiko, auf der Intensivstation zu landen. Und wenn man auf der Intensivstation landet, besteht wiederum ein viel höheres Risiko, dass man sterben kann."

Teil des Problem ist für Čupka, dass die Corona-Maßnahmen, durch die unter anderem Sport in geschlossenen Räumen verboten wurde und gleichzeitig sowohl der Alkoholkonsum als auch die Übergewichtsrate in der Tschechischen Republik gestiegen sind, in der Pandemie negative Wirkung gezeigt haben. Mitte April sollen nun viele Einschränkungen gelockert werden, so dass sich zusammen mit dem Frühlingswetter größere Möglichkeiten für Sport im Freien ergeben - und damit Chancen, Gewicht abzubauen. Tschechische Ärzte sind sich sicher: Im Kampf gegen Corona zählt jedes Kilo.

Luboš Palata Europaredakteur der tschechischen Tageszeitung "Deník".